F: Ausgerechnet von Summerhill, dem Inbegriff der antiautoritären Erziehung, sollen die Leute ein diszipliniertes Zusammenleben lernen?
A: Zunächst mal: Mein Vater war nie glücklich mit dem Begriff »antiautoritäre Erziehung«, er hat ihn auch selbst nie verwendet. Die Wahrheit ist: Viele Eltern sind heute sehr verunsichert. Ihre Kinder sollen in Freiheit groß werden, aber niemand hat ihnen beigebracht, wie man mit einem freien Kind umgeht. Sie denken, dass alles, was das Kind tut, in Ordnung ist, aber das ist es absolut nicht! Die Kinder, mit denen wir dann zu tun haben – auch in Summerhill –, halten sich an keinerlei Regeln.
F: Wenn nun so ein Kind ohne Regeln nach Summerhill kommt …
A: … hat die Schulversammlung eine Menge zu tun. Summerhill ist eine selbst verwaltete Gemeinschaft, und in der Schulversammlung, dem zentralen Gremium, werden alle wichtigen Beschlüsse per Mehrheitsentscheid gefasst. Dort werden auch sämtliche Regeln beschlossen und Verstöße dagegen geahndet.
F: Was war die letzte Regel, die die Versammlung beschlossen hat?
A: Wir haben zum Beispiel letzte Woche abgestimmt, dass man nicht auf die Wege spucken darf. Für mich ist offensichtlich, dass das nicht geht, aber offenbar nicht für alle. Also brachte jemand den Vorschlag in die Versammlung, und die Mehrheit hat dafür gestimmt. Oder das Küchenpersonal hat sich beschwert, dass bei der Essensausgabe oft so ein Lärm herrscht, dass es seine Arbeit nicht tun kann. Wir haben beschlossen, dass es ab sofort zwei Zuständige gibt, die für Ruhe in der Essensschlange sorgen. Gut möglich, dass irgendwann alle Schüler und Lehrer diese Regel verinnerlicht haben, dann schaffen wir sie vielleicht wieder ab.
F: Wie viele Regeln gibt es aktuell?
A: Zwischen 150 und 200.
F: Das klingt nicht gerade nach viel Freiheit.
A: Die Zahl ist hoch, aber es sind auch viele Sicherheits- und Hygieneregeln dabei. Was die Freiheit angeht, sind wir sehr klar: Jeder ist frei, sein eigenes Leben zu leben und zu tun, was ihm gefällt, solange er damit niemand anderen stört. Aber wenn ich nachts um eins Schlagzeug spielen möchte, hört meine Freiheit auf.
F: Das Kind, das bisher keine Grenzen kannte, wird sich kaum daran halten.
A: Dann muss es die Konsequenzen tragen. Die Schulversammlung vergibt für Regelverstöße Strafen: Das können kleinere Geldbeträge oder eine halbe Stunde Arbeitseinsatz sein. Wer etwas kaputt gemacht hat, muss es reparieren, oder wer während der Bettruhe Lärm macht, muss früher schlafen gehen.
F: Der neue Schüler sagt dann vielleicht: Ist mir doch egal, das mach ich nicht.
D: Dann bekommt er eine höhere Strafe, und unsere Ombudsmänner und -frauen – ebenfalls Schüler – versuchen, ihm zu erklären, warum das wichtig ist. Wenn er sich weiter verweigert, muss er die Schule für eine Weile verlassen. Wir haben gerade erst wieder einen Jungen für eine Woche nach Hause geschickt.
F: Das kann unter Umständen ein weiter Weg sein: Nur wenige Kinder sind Tagesschüler, die meisten leben hier im Internat und kommen aus anderen Teilen Englands und der ganzen Welt, ob Korea, den USA oder Deutschland.
A: Wir sind da sehr strikt. Das Kind soll sich zu Hause bewusst werden, ob es wirklich hier sein möchte. Und wenn es das will, muss es auch die Regeln unserer Gemeinschaft akzeptieren.
F: Wie ist die Wirkung?
A: Oft ändert sich das Verhalten der Kinder massiv, wenn sie selbst bewusst entscheiden: Ich möchte auf diese Schule gehen! Aber es gibt auch welche, die wir endgültig von der Schule verweisen müssen.
F: Aber das Spannendste ist nicht immer der Unterricht.
A: Wir haben viele Schüler, die tatsächlich lange Zeit mit Spielen verbringen. Aber irgendwann entscheiden sich die meisten doch, bestimmte Abschlüsse zu machen, und beginnen dafür zu lernen.
Zoë Readhead, Schulleiterin von Summerhill in einem Interview mit dem SZ-Magazin in http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/36943/1/1
Hervorhebungen von mir, Teile ausgelassen.
Erster Gedanke: Hört sich jetzt nicht so an, als würde es ohne Disziplin funktionieren. Dass die Regeln hier von den Kindern gemacht werden - geschenkt. Regeln sind es trotzdem und die werden durchgesetzt.
Zweiter Gedanke: Es gibt anscheinend Schüler derer sich Summerhill endgültig entledigt. Diese Möglichkeit zu haben führt natürlich zu einer hochgradigen Selektion. Wenn unsere Schule schlicht alle Leute rausschmeißt, die nicht wollen, ist klar, dass am am Ende keine Disziplinprobleme mehr da sind. Dass Summerhill sehr viel mehr Zeit in seine Schüler investiert als in unserem Regelschulsystem möglich wäre ändert daran nichts.
Dritter Gedanke: Die Möglichkeit, dass ein Schüler keinen Abschluss erreicht, existiert. Das sei in Ordnung, weil sich der Schüler ja eigenverantwortlich dafür entschieden habe. Eine Schule, die diese Sichtweise in Deutschland vertritt, sollte sich wohl lieber warm anziehen.
Nicht zum Thema, aber eines meiner Lieblingszitate:
Es kommen immer mal wieder neue Lehrer mit modernen Ansätzen zu uns. Meistens sagen die Kinder selber: Bitte lass den ganzen Schnickschnack, unterrichte uns einfach!