Zitat
Was wäre denn der Sinn einer Islamkritik in deinem Sinne?
Es geht mir weniger um den rational-intellektuell rekonstruierbaren Sinn von etwas, als um seine Ausdrucksformen und seine Verankerung im politischen Zusammenhang. Um es einmal sehr akademisch zu sagen.
Wenn man im Islam eine Bedrohung sieht und etwas dagegen tun möchte, muss man offensichtlich mit seiner Botschaft nicht "urdeutsche Männer" Ü 50 erreichen, sondern Menschen, die biographisch und genealogisch mit dem Islam verbunden sind. Und zwar vor allem die Menschen, die ohnehin bereits eine gewisse Distanz zum Islam bzw. zu seiner fundamentalistischen Auslegung haben, weil diese Menschen in Milieus hineinwirken können. Diese Menschen gibt es, und zwar in zunehmendem Maße. Bildung und Teilhabe hilft eben doch, nicht in jedem Einzelfall, aber statistisch.
Zweifelhaft scheint mir, dass man Menschen allein oder primär mit einem Konstrukt namens "Islamkritik" ansprechen kann. Sei es, weil sie nicht einsehen, dass man sie mit etwas behelligt, was sie nach eigener Einschätzung nicht betrifft. Sei es, weil sie sich ethnisiert fühlen und sich wundern, dass Leute, die sich mit ihnen und ihrer Identität sonst nicht befassen, sich plötzlich mit ihrem Glauben (oder dem ihrer Eltern) befassen. Sei es, dass sie sich von den "Islamkritikern" bedroht fühlen, weil sie den Eindruck haben, dass diese Kritiker nicht den Islam angreifen, sondern sie als Menschen. Die aktuell modische "Islamkritik" ist in weiten Teilen doch ein reines Selbstgespräch "traditionell deutscher" Personen, geprägt von Unkenntnis, Floskeln und Wunschdenken. (Warum sind DIE nicht wie ICH?)
Und was den Fundamentalismus und den religiösen Fanatismus angeht: Ja, hier muss natürlich gegengehalten werden. Aber das wird nicht mit Floskeln und Maximalforderungen gelingen, sondern nur, indem man sich auf neue Realitäten einlässt, also eigene Kenntnisse hat, sei es zum Islam, sei es zur Migration. Z. B. ist die Fixierung des deutschen Geschichtsunterrichts auf den Nationalsozialismus offenbar nicht hilfreich, wenn es um muslimischen Antisemitismus geht.
http://www.sueddeutsche.de/pol…ntrolle-geraten-1.2059322
Das könnte man auch an deutschen Schulen zur Kenntnis nehmen. Aber dann müsste man sich mit neuen Themen befassen und sich in Konfliktlagen begeben, die einem vielleicht Angst machen (ich würde mich gar nicht davon freisprechen).
Das Ganze ist ein großes Experiment. Ob es ein gutes Ende nimmt, weiß ich auch nicht. Aber weder werden die Milieus, an die man beim Thema "Islamkritik" reflexartig denkt, aus Deutschland wieder verschwinden, noch werden sie sich von "Islamkritikern" ex cathedra von der Notwendigkeit einer christlich-deutschen Leitkultur überzeugen lassen.
EDIT
Im Übrigen kenne ich auch die Geschichten, bei denen es einem kalt den Rücken runter läuft, bzw. habe sie mit erlebt. Von der muslimischen Doktorandin in Mathematik, deren Doktormutter sie an einen Mann weiterempfehlen will - was sie ablehnt. Es kommt heraus, dass ihr Mann, ein Arzt (!), niemals die Betreuung seiner Frau durch einen Mann akzeptieren würde. Oder von dem Paar - ihre Eltern aus Polen, seine aus der Türkei -, dessen Mann sich vor der Hochzeit plötzlich vom Acker macht, weil seine Familie ihn dazu drängt. Argument: "Die Religion ist doch das Wichtigste." Und das sind Fälle, in denen es um vordergründig sehr erfolgreiche und integrierte Personen geht. Es ist eben schwierig.