Beiträge von unter uns

    Zitat

    Montag - Rechtschreiben, Dienstag - Grammatik, Mittwoch - Ausdruck, Donnerstag noch mal RS und Freitag Lesen (Die Reihenfolge der Rubriken soll jetzt nicht relevant sein). Manchmal, hab ich mich auch schon gefragt, ob es vielleicht besser wäre, wieder dahin zurück zu kehren. Ich habe es einmal versucht auszuprobieren, nur, ich konnte es mit dem Lehrwerk nicht so richtig vereinbaren. Vielleicht hätte es da mehr intensiver Vorbereitung bedurft. Wie sieht es in der Oberstufe aus? Gibt es dort die klare Trennung?

    Nein, eine klare Trennung gibt es am Gym nicht. Wir machen auch "integrierten" Unterricht, d. h. verschiedene Themenbereiche zusammen und abwechselnd. Wenn also ein Buch gelesen wird, wird zwischendurch daran auch mal Grammatik geübt usw. Gerade bei den jüngeren Kollegen denke ich, dass die didaktischen Unterschiede zwischen Grundschule und Gymnasium nicht soooo groß sind. Was bei uns aber anders ist: Wir haben in Deutsch vermutlich weniger Stunden als die Grundschulen, es gibt mehr Fächer, mit denen die Kinder kämpfen, es gibt kein Klassenlehrerprinzip. Deshalb steht vieles unter größerem Zeitdruck und deshalb sind Räume für "selbstentdeckendes Lernen" kleiner - was ja vielleicht nicht das Schlechteste ist. Deshalb werden aber auch eher Kinder abgeschrieben, die nicht mitkommen. Der Frust der Deutschkollegen ist auch aufgrund der Rahmenbedingungen teilweise so groß: In ihren Köpfen spukt herum, dass an den Grundschulen gaaaanz viel Deutschunterricht stattfindet (was vielleicht gar nicht stimmt?). Und dann kommen die Kinder mit Defiziten zu uns und wir prügeln ihnen in maximal vier Wochenstunden den Stoff ein. Und der Stoff ist gerade in den Klassen 5 und 6 extrem umfangreich, es ist schon sehr eng.


    Ich frage mich jedenfalls ganz unabhängig davon, ob das selbstentdeckende Lernen es immer bringt. Manchmal denke ich eben, es verwirrt die Kinder nur - und die Lehrer auch.


    Zitat

    Die Kollegen der ersten beiden Klassen argwöhnen mittlerweile, dass in den dritten und vierten Klassen manchmal frontal unterrichtet wird... dass sogar manchmal alle Kinder dieselben Hausaufgaben aufbekommen... und haben sich schon bei der Schulleitung beschwert.

    Hähä, das ist lustig. Naja, eigentlich nicht. Aber davon habe ich auch schon gehört. Offenbar gibt es manchmal nicht nur eine Kluft zwischen Gym und Grundschule, sondern auch Kämpfe innerhalb mancher Grundschulen: Die Lehrer der 1. und 2. Klasse gegen die Lehrer der 3. und 4. Ich hätte persönlich übrigens nichts dagegen, einen Grundschullehrgang fortzusetzen - von mir aus auch Sommer-Stumpenhorst (den ich nicht kenne). Wenn es mit den gymnasialen Rahmenbedingungen geht und wenn es effektiv ist - was ich beides ein bisschen bezweifle. Andererseits finde ich es schon bedenklich, wenn an vier Jahre umfassende Schulen 6jährige Lehrgänge verkauft werden und die Kollegen sich darauf zurückziehen. Nach dem Motto: Es steht doch sechs Jahre drauf, was interessiert mich die Zukunft der Kinder? SOLCHE Leute haben wir natürlich auch. Sie haben z. B. die Umstellung von G9 auf G8 nicht verkraftet und rennen nun immer durchs Lehrerzimmer mit dem festen Entschluss, von ihren Unterrichtsinhalten keinen Millimeter abzurücken. Was natürlich Quatsch ist.


    Zitat

    Mehrere Jahre lange war ich 1x in der Woche zu einer Fördermaßnahme in verschiedenen Kindergärten eingesetzt und habe dort z.B. hautnah mitbekommen, dass sich die Kleinen in einer ständigen Unruhe und Hektik befinden, aus meiner Sicht hervorgerufen durch dieses offene Konzept, das in Kindergärten zunehmend gelebt wird, d.h. es gibt zwar Gruppen, aber alle Türen stehen ständig offen, jeder kann überall hin, jederzeit.

    Nun, wie gesagt, die Folgen dieser Praktiken konnte ich bei meinen neuen 5klässlern nun auch sehen. Wobei sich hier die Grundschulen sehr unterscheiden. Bei manchen Grundschulen kann man sehr böse sagen: Die Kinder kommen mit wenig Können, viel Selbstbewusstsein und viel schlechtem Benehmen. Das ist aber sehr scharf formuliert und nicht das Hauptproblem. Schwierigkeiten im Umgang können wir meist recht schnell lösen, die Kinder begreifen rasch, was gewünscht ist. Probleme im Können sind eher problematisch. Aber es erstaunt mich schon, wenn die Kinder es z. B. überhaupt nicht mehr gewohnt sind, zur Begrüßung aufzustehen. Oder wenn sie gar nicht merken, dass man mit dem Unterricht anfangen will. Ich lasse sie ja nicht aufstehen, damit sie mich anbeten. Sondern damit sie wissen: Es geht jetzt los. Aber irgendwie kommen manche Grundschulen offenbar ohne solche Rituale aus. Ich frage mich nur: Wie machen die das?


    Zitat

    nur, damit wir uns nicht falsch verstehen: die kinder schreiben in klasse 1 und 2 lautgetreu. es wird irgendwann zwischen ende 1 und mitte 2 mit lernwörtern begonnen.
    den kindern wird immer wieder deutlich gesagt: ich erwarte, dass du unsere lernwörter richtig schreibst.

    Ja, das ist schon klar. Trotzdem: Die sanfte, schrittweise Methode fördert bei Kindern, die nicht schriftaffin aufwachsen, vielleicht doch Missverständnisse. Auch wenn man jedesmal sagt: "Es gibt eine Erwachsenenschrift." Vielleicht denkt sich da mancher 3klässler: "Bis ich erwachsen bin, dauerts noch. Lass die mal reden..." :)

    Zitat

    aber als dann eine realschullehrerin fragte "gibt es für die grundschule überhaupt lehrpläne?" - da war der ofen aus.

    Als ich das gelesen habe, hätt ich mich echt wegschmeißen können vor Lachen. Das war ja für euch sicher nicht angenehm, aber ich stelle mir die Situation bildlich vor: Endlich haben sich die zwei einander misstrauisch beäugenden Lager in einem Lehrerzimmer zusammengefunden. Vielleicht liegen Häkeldeckchen auf dem Tisch, ein paar Kerzen brennen, es gibt Kekse. Fast wie Weihnachten. Und dann fällt EIN Satz - und alles im Raum gefriert... Schon komisch, passt irgendwie zum Klischee, dass der soziale Umgang von Lehrern manchmal eben ... schwierig ist.


    manu1975:


    Ich meine, dass die Extreme, die Du hier aufmachst, in der Realität so nicht existieren. Das Kind, das kein Wort richtig schreiben kann, aber die nächste physikalischen Entdeckung a la Relativitätstheorie macht (Einstein) oder das Kind, das alle grammatischen Fachbegriffe super draufhat, aber leider "Adjecktif" und "Suppstantief" schreibt - das gibt es in der Regel (!) doch eher nicht, und wenn doch, liegt es weniger an mangelnden Rechtschreibkenntnissen als an klinischen Problemen wie LRS. Es wird - und ich finde: mit Recht - am Gymnasium davon ausgegangen, dass ein aufmerksames, intelligentes und fleißiges Kind irgendwann die Dinge, die es ausdrücken will, auch weitgehend richtig schreiben kann. Und hier steht das Gymnasium definitiv im Einklang mit dem "echten" Leben. Denn dort wird genau das auch erwartet. Keine Personalabteilung sucht in den Bewerbungen von Leuten, die statt "Geburtsort" "gebuhrtsorrt" schreiben, nach verborgenen Genies.


    Weshalb Kinder, die die Rechtschreibung nicht draufhaben, am Gymnasium oft scheitern? Das ist gar nicht so leicht zu sagen. Es liegt, glaube ich, am starken Lehrgangscharakter des Gymnasiums. Bestimmte Dinge werden ab einem bestimmten Punkt erwartet. Wenn sie nicht da sind, kann darüber nicht hinweggesehen werden. Es verlangt zwar niemand, dass ein Abiturient absolut fehlerfrei schreibt. Aber falls man einen Text aufschlägt, in dem man sofort drei Substantive sieht, die klein geschrieben werden, wird das zum Problem und irgendwann (so ab Klasse 7) auch zum Notenproblem.


    Dann kommt hinzu, dass das Gymnasium nicht geeignet ist, jedem Kind jederzeit Nachholmöglichkeiten zu bieten. Wenn ich unsere Schule nehme: Die Kinder starten bei uns in Klasse 5 mit Französisch UND Englisch. Das heißt: Zusätzlich zur deutschen Rechtschreibung müssen sie nun auch noch die englische und französische schultern, und HIER sagt niemand mehr: "Du kannst kein englisches Wort richtig schreiben? Macht nichts, Du bist trotzdem voll der Fremdsprachen-Crack!" Die Kinder kämpfen also plötzlich an drei Schreibfronten, und haben noch nicht einmal das Gefühl, im Deutschen solide dazustehen. Von den andern Fächern ganz zu schweigen.


    Was den Unterricht angeht, mache ich auch einiges mit Selbstorganisation, zwar nicht in jeder Stunde, aber doch so oft es geht. Wenn ich eine neue Stationenarbeit gebastelt habe - z. B. zu den Wortarten - und die Kinder arbeiten zwei oder drei Stunden ohne mich vor sich hin, bin ich auch glücklich und denke: So sollte Unterricht sein. Ich bin auch kein Fan des Frontalunterrichts und weiß schon, dass er viele Kinder fertig macht. ABER ich frage mich trotzdem immer wieder, ob ich in den selbstorganisierten Phasen nicht manche Kinder im Stich lasse. Nämlich die schwächeren. Ob nicht bestimmte Dinge besser gelernt und beherrscht würden, wenn instruktiver, frontaler, strenger und normativer unterrichtet würde. Und ich habe auf diese Frage keine Antwort. Wenn das Mittelschichtenkind in meiner Stationenarbeit viel Spaß hat, aber nichts lernt, weil bestimmte Dinge nicht klar gesagt und ins Regelheft geschrieben werden (wenn es ein Regelheft gibt), geht es nach Hause und vor der Klassenarbeit zu Mami, die holt dann das Schulbuch des Kindes raus und sie klären die offenen Fragen. Wenn das Kind aus der unteren sozialen Schicht in der Stationenarbeit nichts lernt (weil ihm das Konzept der selbständigen Erarbeitung vielleicht eher fremd ist) bleibt es orientierungslos. Und dann gibt es bald eine "Realschulempfehlung".


    Zitat

    die kinder beginnen, lautgetreu zu schreiben - ab klasse 2 werden bei uns lernwörter geübt und wo es sich anbietet auch rechtschreibinhalte. ab klasse 3 das ganze dann intensiver in unterrichtseinheiten und übungen zwischendurch.

    Vielleicht ist das einfach eine Progression, die den Kindern nicht einleuchtet? Wenn sie am Anfang schreiben können, wie sie wollen, weshalb soll sich das ab Klasse 3 ändern? Und hier sieht man genau dasselbe didaktische Problem: Den Kinder aus gutem Hause wird im Notfall zuhause der Kopf gewaschen. Da wird eben gesagt: Du bist jetzt in Klasse 3, Du musst das können. Die anderen Kinder, vor allem die nicht ganz so wachen, kapieren vielleicht noch nicht einmal, was sich in Klasse 3 ändert. Oder sie kapieren es zu spät. Ich weiß nicht, ob es so ist, aber es wäre denkbar.

    Danke für die vielen Antworten, ich finde das sehr informativ. Ja, die nachlassenden Leistungen könnten an den Gameboys liegen. Sie könnten aber auch daran liegen, dass die Grundschuldidaktik sich verrannt hat und die "vielen alternativen Methoden" ganz einfach ineffektiv sind - verglichen mit dem Pauken von Wörtern und den Diktaten, die keiner mehr will. Wenn dem so wäre, wäre das natürlich nicht nur ein Grundschulproblem, sondern ähnliche Probleme stellen sich auch an den weiterführenden Schulen. Man macht alles Mögliche mit tollen Methoden und wundert sich über das Ergebnis - dafür war es aber bunt und didaktisch korrekt. Das betrifft die Gymnasien genauso, keine Frage.


    Ich kann jetzt nicht auf alles eingehen, was hier schon geantwortet wurde - aber noch mal zur Klarheit: Mir ist bewusst, dass die Grundschulen schwere und gute Arbeit machen und dass der einzelne Kollege ohnehin nur begrenzte Spielräume hat. Das ist im Schulsystem ja generell so. Und dass man zum Beispiel darüber diskutieren kann, ob Rechtschreibung so wichtig ist, dass sie viel Grundschulzeit fressen sollte. Man könnte ja z. B. auch sagen, man achtet im 1. und 2. Schuljahr nicht mehr auf Rechtschreibung (scheint ja an manchen Grunschulen auch so zu sein) - und verlagert eventuell verlorene Zeit ins 5./6. Schuljahr. Dann müsste ich das als Lehrer aber auch klar wissen und dafür Zeit zugestanden bekommen - und nicht aufgefordert werden 500 "Kompetenzen" zu schulen, unter denen die Rechtschreibung eine ganz kleine, scheinbar nebensächliche Sache ist. WENN man das so macht, muss man aber beachten, dass bis dahin eine wichtige Schullaufbahnentscheidung schon gefallen ist, und für die spielt die Rechtschreibung natürlich eine wichtige Rolle, ob offen eingestanden oder nicht. Jedenfalls find ich Anregungen aus dem GS-Bereich immer gut, damit ich selbst auf neue Materialien etc. komme, die ich dann bei uns einsetzen kann, von der "Leßmann-Kartei" habe ich z. B. noch nie gehört :).


    Übrigens muss ich über die Vergesslichkeit der Kinder auch immer schmunzeln, die gibts bei uns natürlich auch. Alles nie gemacht! Bei jedem Lehrerwechsel ;).


    Zitat

    Ich verstehe nicht, warum immer die RS für die Leistungsbewertung herhalten muss. Nur, weil das so leicht abzuprüfen ist? Wie viel Zeit muss man denn dafür aufbringen, dass die Kinder wirklich super darin sind? Zeit, die einem dann für andere Dinge fehlt. Ich finde es viel wichtiger, dass Kinder sich mündlich und schriftlich ausdrücken könne, über einen angemessenen Wortschatz verfügen, argumentieren und diskutieren können usw. Wie man an der Reform gesehen hat, kann die RS ja auch recht vergänglich sein.

    Wenn ich noch mal die Studie von Steinig zugrunde lege (wie gesagt: nicht repräsentativ), sind das Diskussionen der 1970er und 80er Jahre. Ich finde es interessant, wie viele Kollegen hier meinen, die RS sei unwichtig. Rein theoretisch gibt es für diese Behauptung ja auch extrem gute Gründe, aber empirisch sieht es zumindest in Dortmund und Recklinghausen offenbar so aus:


    - Die RS ist im Bereich Deutsch das wichtigste Selektionskriterium für die Schullaufbahnentscheidung. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das ist ja auch klar - niemand wird Eltern sagen: "Ihr Kind sollte nicht aufs Gymnasium, weil ich meine, dass es keine schönen Geschichten erzählt."
    - Mittelschichtenkinder rechtschreiben 2002 zwar schlechter als 1972, aber sie haben tatsächlich in anderen Bereichen (z. B. Wortschatz, Kreativität im eigenen Schreiben) zugelegt. Für sie funktioniert der RS-Unterricht auch noch einigermaßen, vermutlich, weil sie zuhause Unterstützung haben und weil sie mit "offenen", "konstruktiven" Übungsformen einigermaßen umgehen können.
    - Abgehängt werden die Kinder, in deren Namen die meisten Rechtschreibreformer sprechen: Die Kinder, die aus Elternhäusern kommen, wo selbst Unsicherheiten in der RS bestehen. Sie erreichen die Mittelschichtenkinder nicht mehr, und die Umstellung auf "konstruktive" Verfahren scheint den Abstand deutlich vergrößert zu haben.
    - Abgesehen davon ist klar, dass wir nicht über "perfekte" RS-Kenntnisse reden. Wir reden über einen Kern von Kompetenzen - der auch durch die RS-Reform gar nicht berührt wurde.


    Zitat

    Nur, weil man nicht richtig schreiben kann, heißt das noch lange nicht, dass Kinder unfähig sind, ein Gymnasium besuchen zu können!

    Doch. Genau das heißt es. Jedenfalls für viele Kinder. Sie bekommen vielleicht noch eine Schonfrist in 5 und 6, aber danach wird es schwer, am Gymnasium zu bestehen, wenn man in der RS große (!) Probleme hat. Das ist vielleicht ungerecht, aber Realität - zumindest bei uns in der Gegend.

    So, hier ein Thema aus dem Giftschrank: Was tun die Grundschulen im Sprachunterricht? Aus aktuellen Anlässen wird es bei uns inzwischen eigentlich mit jeder neuen Jahrgangsstufe 5 diskutiert. Ich habe jetzt gerade eine neue 5. Klasse - gut, sie konnten am Anfang nicht pünktlich sein und rannten immer im Klassenraum herum, das waren sie anscheinend so gewohnt. Ist kein Beinbruch und sagt über "die" Grundschulen sicher nichts aus. Was mich aber doch irritiert ist: Sie haben wenig Ahnung von Rechtschreibung... Nicht alle natürlich, aber doch sehr viele. Sie schreiben natürlich nicht alles falsch, aber an vielen Stellen fragt man sich, ob jemals ein systematischer Rechtschreibunterricht stattgefunden hat. Zum Beispiel scheinen viele Kinder wirklich keinerlei Ahnung davon zu haben, dass es Regeln für die Groß- und Kleinschreibung gibt. Sie scheinen also zu wissen, dass man manche Wörter großschreibt (vielleicht, weil sie die Wörter kennen?) Aber dass es Klassen (!) von Wörtern gibt, die man großschreibt - das haben viele offenbar nicht verinnerlicht.


    Von der Handschrift will ich gar nicht reden. Ich erinner mich dunkel, dass ich noch Schwungübungen gemacht habe, als ich zur Schule ging. Das ist bei "meinen" 5klässlern sicher nicht so gewesen, und man sieht es.


    Um es sehr zugespitzt und böse zu sagen: Die Kollegen wollen eigentlich nur vier Dinge von den Kindern in Klasse 5: Dass sie ungefähr wissen, wie Schule funktioniert und dass es Regeln gibt. Dass sie lesen, (recht)schreiben und rechnen können. Die Kinder müssen keine Folien auflegen können, nicht mit Powerpoint arbeiten können, nicht den Kreativitäts-Nobelpreis gewinnen können usw. Aber irgendwie klappt das mit den Wünschen von Gymnasium und Grundschule offenbar nicht, sie passen nicht mehr zusammen. Z. B. gibt es an den Grundschulen in unserer Gegend offenbar teilweise keine Diktate mehr. Die schreiben wir aber weiterhin. Die Kollegen gehen fluchend durchs Lehrerzimmer und fragen sich, wie ein Kind, das beim Abschreiben (!) eines kurzen Textes dutzende Fehler macht, eine Gymnasialempfehlung bekommt.


    Jetzt las ich eine Studie von Steinig et. al., die Texte von Grundschülern aus den Jahren 1972 und 2002 aus Dortmund und Recklinghausen verglichen haben. Die Ergebnisse sind nicht (!) repräsentativ. Aber das Fazit ist:
    - Die Gymnasiasten können 2002 besser als 1972: Erzählen, kreativ schreiben. Sie können deutlich schlechter: Rechtschreiben.
    - Real- und Hauptschüler können 2002 besser als 1972: Gar nichts. Jedenfalls nicht in Relation zu den Gymnasiasten. Dafür können sie aber etwas deutlich schlechter: Rechtschreiben.
    Steinig et. al. fordern auf der Basis übrigens eine Abschaffung des gegliederten Schulsystems oder mehr Förderung für schwächere Kinder in der Grundschule...


    So, um das jetzt noch klar zu sagen: Ich erwarte natürlich nicht, dass ein 5klässler perfekt rechtschreibt. Und dass die Kinder große Erzählqualitäten haben (zumindest viele) erkenne ich vollkommen an. Ich weiß auch, dass an den Grundschulen sehr harte Arbeit geleistet wird und denke, dass es insgesamt gute Arbeit ist. Ich würde auch nie einfach (wie manche meiner Kollegen sich das vorstellen) Forderungen stellen und sagen: Die Grundschulen müssen, sollen blabla. Dafür weiß ich zu wenig darüber, was dort passiert.


    Aber interessieren, wie das Ganze sich aus Grundschulsicht darstellt, würde es mich doch. Für mich stellt sich die Situation so dar, dass ich jetzt erst einmal monatelanges Rechtschreibtraining machen werde. Es wird sehr frontal werden, sehr langweilig und mit sehr viel Druck funktionieren. Sehr "undidaktisch" also. Was man den Kindern vielleicht in der Grundschule erspart hat, kommt also jetzt. Einige werden an der Rechtschreibung scheitern - nicht nur, aber wesentlich auch. Dafür werde ich den Stoff, den ich machen sollte, nicht machen.


    Wie also sieht es im Sprachunterricht der Primarstufe aus? Ein bisschen Aufklärung wäre super, damit ichs besser verstehe.

    Ganz offen gestanden würde ich auf der korrekten Version DIESER Regel nicht herumreiten.


    Wenn Du also Silbenschwingen machst und ein Kind trennt das Wort dann falsch (A-meise) würde ich es unterschlängeln und in der Klasse erklären, dass man einzelne Buchstaben nicht abtrennt - aber keinen Fehler geben und mich auch nicht lange damit aufhalten.


    Ich habe gerade eine fünfte Klasse und was ich lese ist rechtschreibtechnisch so unglaublich grauenhaft, dass diese Trennungsfrage ein echtes Luxusproblem ist.

    Ich denke auch, dass die Didaktik hier doch nun etwas zu schlecht wegkommt - ja, vieles ist unsinnig, ideologisch, teilweise kontraproduktiv und im Alltag (gerade in der Ausbildung) extrem ärgerlich. Und, das darf man nicht vergessen, im Extremfall in Ausbildungskontexten auch schon mal existenzgefährdend. Auch tut die Didaktik ohne Praxiskorrektur den Schülern nicht immer gut. Dafür gibt es viele Gründe, nicht zuletzt natürlich die Gestaltung institutioneller Karrierewege, die nicht immer passende Leute in Schlüsselpositionen bringen.


    Andererseits steht der empirische Test darüber aus, wie Schule heute OHNE Didaktik aussähe. Und was wir z. B. empirisch über Unterricht wissen würden, wenn es keine Didaktik gäbe.


    Last but not least gibt es natürlich immer zwei Positionen, aus denen man die Didaktik heraus kritisieren kann: Eine "informierte", die didaktische Vorgaben mit reflektierter Erfahrung abgleicht und eigentlich selbst versucht, begründete didaktische Entscheidungen zu entwickeln (die der "offiziellen" Didaktik natürlich dann teilweise entgegenlaufen). Und eine sich nur informiert gebende, die letztlich Trägheit, Ignoranz und Unprofessionalität zum (natürlich nicht zugegebenen) "didaktischen Leitprinzip" macht. Ich denke, die zweite Position kann man an allen Schulen auch vielfach beobachten, quer durch Fächer und Altersgruppen. Wenn man das dann sieht, scheint die Existenz einer Didaktik, die ab und an übetreibt, doch ganz sinnvoll zu sein.

    Zitat

    Womit - wenn dem tatsächlich so ist, aber ich mag ja wichtige Quellen übersehen haben - klar wäre, dass die Beziehungsarbeit in der Lehre/im Unterricht im Ursprung überhaupt gar keine zentrale didaktische Idee ist ... vom zeitlichen Ablauf her schon gar nicht sein kann. DIESE Idee war schon lange da ... als noch niemand überhaupt an so etwas wie Didaktik gedacht hat ... und damit hätte die Didaktik diese Idee schlichtweg nur geklaut.

    a) Ich habe nicht geschrieben, dass die Idee der Beziehungsarbeit von der Didaktik erfunden wurde, sondern nur, dass es sich um eine zentrale didaktische (oder vorsichtiger: pädagogische) Idee handelt, und zwar - und nur deshalb habe ich K. Reich genannt - AUCH und GERADE in der Gegenwart. (Ich räume aber ein, dass meine Ausdrucksweise etwas missverständlich war.) Mir geht es schlicht darum, dass die meisten Lehrer imho von Ansichten geprägt sind, die natürlich auch aus der Didaktik auf sie einwirken und die sie, mehr oder weniger reflektiert, übernehmen. Wenn Sonnenkönigin schreibt, sie sei der Ansicht, Unterricht funktioniere wesentlich über Beziehungen, ist auffällig, dass sie eine didaktisch heute sehr populäre Ansicht vertritt - hier MUSS sich kein unterschwelliger didaktischer Einfluss äußern, aber es ist nicht gerade unwahrscheinlich, dass (auch) die Didaktik sich hier bemerkbar macht.


    b) Auch wenn man in der didaktischen, pädagogischen oder philosophischen Erziehungs- und Unterrichtstheorie schon im 15. Jahrhundert Belege finden kann, die auf die Wichtigkeit von Beziehungen abstellen, ist die emphatische Vorstellung der "Beziehungsarbeit" oder des "Primats der Beziehung" natürlich keine Vorstellung, die die Schulrealität dieser Zeit prägt oder aus ihr entsteht. Erstens muss man bei der Rezeption der Quellen bedenken, dass es in ihnen sehr oft NICHT um Schule geht, sondern um Einzelunterricht und damit um etwas völlig anderes. Außerdem gilt, dass bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Schule in der Breite bedeutet: Beziehungen sind asymmetrisch und die Asymmetrie wird notfalls mit Gewalt durchgesetzt, Schulen sind Paukschulen, in denen frontal und instruktiv unterrichtet wird und für Arbeit am Lehrer-Schüler-Verhältnis eher wenig Raum bleibt. Natürlich existiert (notgedrungen) eine Schüler-Lehrer-Beziehung, aber sicher keine, die man mit dem Begriff "Beziehungsarbeit" bezeichnen könnte. Das Bild, das Du hier entwirfst, ist deshalb schlicht verdreht: Die pädagogische und didaktische THEORIE geht der schulischen PRAXIS in der Regel voraus. Die Aufklärungspädagogen des 18. Jahrhunderts reden theoretisch von der Selbstbestimmung der Kinder und drillen sie praktisch auf Gehorsam, die Reformpädagogen reden von der Liebe zum Kind, WEIL diese Liebe in der Breite des Schulsystems nicht sichtbar ist.


    c) Übrigens ist auch die Stilisierung der Psychologie zum Vorbild der Didaktik selbst ein populärer didaktischer Gedanke (auch wenn die Didaktik ihn nicht (!) erfunden hat) - bzw. genauer: es gibt genug Didaktiker und Pädagogen, die meinen, sie würden wichtige Beiträge leisten, wenn sie vom einzelnen Kind aus argumentieren. Es fällt eben schwer zu akzeptieren, dass Schule nicht primär mit einzelnen Kindern arbeitet. Abgesehen davon ist die Aussagekraft der gelobten psychologischen Studien oft doch selber arg begrenzt - wenn man einen psychologischen Aufsatz liest, liest man in der Regel erst einmal ein dutzend Seiten mit "Disclaimern", dann kommt irgendein sehr artifizieller Versuchsaufbau, dann werden Schlüsse gezogen, die, wenn es schlecht läuft, Lücken wie Scheunentore haben. Es wird nicht gelingen, Didaktik wie Physik zu betreiben - aber auch in der Psychologie klappt das natürlich nicht. Das kann aber nicht heißen, sich dozierend vor die Schüler zu stellen und ihre freundlichen Reaktionen (die manchmal auch nur die von Abhängigen sind - wer kennt es nicht, dass SChüler sagen, was für ein toller Lehrer man ist und wie schlecht x ist/war) zur einzigen Basis der Unterrichtsplanung zu machen.

    Ein weites Feld.


    Ich denke, die Didaktik ist mittlerweile selbst so heterogen, dass es "die" Didaktik gar nicht gibt. Stattdessen gibt es eine Reihe von "Didaktiken" mit unterschiedlichen Zielen und Ansprüchen.


    Aus meiner Sicht hat "die" Didaktik mindestens zwei völlig legitime Betätigungsfelder:


    (1.) Leitlinien, Methoden und Inhalte für Unterricht allgemein zu definieren. Dies setzt imho selbst praktische Unterrichtserfahrung voraus, ist in jedem Fall in erster Linie ein reflektiertes Handwerk, aber für die Weiterentwicklung von Unterricht unverzichtbar.


    Dieser Bereich der Didaktik leidet allerdings seit Entstehung der universitären Didaktik bzw. vor allem: Fachdidaktik in den 1960er/70er Jahren darunter, dass er von Menschen überschwemmt und besetzt wird, denen jede Praxiserfahrung fehlt und die daher oft nur eine sehr begrenzte Fähigkeit haben zu beurteilen, was sie eigentlich vorschlagen. So wird die Notwendigkeit, in der Schule Unterricht erst möglich zu machen, von diesen Theoretikern notorisch unterschätzt. Sie haben zwar alle möglichen Ideen davon, was Großartiges denkbar wäre, wenn Kinder nicht so wären, wie sie sind. Sie können jedoch in der Regel nicht beantworten, was etwa an einer Hauptschule im sozialen Brennpunkt geschehen soll, in der faktisch viele Stunden keine Unterrichtsstunden mehr sind, oder wie man mit der Tatsache umgehen soll, dass Kinder sich nicht nach Gruppenarbeiten verzehren. Sie haben keine ernsthaften Vorschläge zu machen, wie man Deutschaufsätze zum "gestaltenden Interpretieren" seriös bewerten soll, obwohl sie selbst diese Aufsatzform durchgesetzt haben - abgesehen vom didaktischen Standardtipp natürlich, auf Bewertungen zu verzichten, ein Tipp, der mehr über das Elend der Didaktik als das der Schule aussagt. Usw.


    (2.) Empirisch zu ermitteln, welche Effekte Unterricht hat oder ähnliches. Diese Seite der Didaktik ist im Kommen und wichtig. Es ist bemerkenswert und praxisrelevant, wenn die Studie von Plath und Richter zum Lesen in der Grundschule feststellt, dass die Lehrerinnen die Kinder genau DIE Bücher lesen lassen, die die Kinder nicht lesen wollen (nämlich problemorientierte Bücher, eine Seuche, die sicherlich auch wieder die Didaktik mit in die Grundschulen getragen hat). Es ist bemerkenswert, wenn die Studie von Steiner et. al. feststellt, dass die soziale Selektivität der Grundschule sich zwischen 1972 und 2002 erhöht hat - auch hier erschreckenderweise wegen didaktischer Erfolge. Pointiert zusammengefasst zeigt eine empirische didaktische Studie hier, wie Neuansätze der Didaktik zahllose (Unterschichten)biographien beschädigt haben. Es ist bemerkenswert, wenn Fritzsche et. al. zeigen, dass handlungs- und produktionsorientierte Verfahren im Literaturunterricht der Klassen 5 und 6 analytischen Verfahren nicht überlegen sind. Übrigens erneut nichts anderes als eine empirische didaktische Kritik didaktischer Heilsbotschaften


    Solche Dinge kann man als Lehrer schon mal wissen. Wie es auch eigentlich peinlich ist, wenn man im Forum sieht, dass die meisten Lehrer die Potsdamer Studie zur Lehrerbelastung nicht kennen - was nicht im engeren Sinne mit Didaktik zu tun hat, aber in die Richtung geht.


    Übrigens muss man m. E. bei aller Didaktik-Schelte bedenken, dass man oft gar nicht merkt, wie viel von der kritisierten Didaktik man in sich trägt. Z. B. ist die Idee, Unterricht lebe von Beziehungsarbeit, selbst eine zentrale didaktische Idee (etwa in den Schriften K. Reichs). Sie ist NICHT einfach aus der schulischen Praxis entstanden. Vielleicht ist die Didaktik also besser als ihr Ruf ;-).

    Was mich bei einem entsprechenden Besuch viel mehr interessieren würde, ist die Frage, ob der Standard-Unterricht gut ist bzw. mir gefällt. Anders gesagt würden mich Fragen beschäftigen wie: Hat die AKO ein gutes Verhältnis zur Klasse, herrscht eine positive Atmosphäre? Hast Du den Eindruck, dass sie gut erklären kann? Dass die Kinder mitarbeiten? Dass die Kinder etwas verstehen? Dass der Unterricht zwischen Anspannung- und Entspannungsphasen wechselt, sodass die Kinder auch mal durchatmen können? Dass die Lehrerin Probleme wahrnimmt, die bei einzelnen existieren? Dass sie die Klasse also im Blick hat, dass sie Dinge sieht? Dass sie das Leistungsniveau der Kinder einschätzen kann? Dass sie auch mal einen Scherz macht? Dass sie flexibel ist? Dass sie fachkompetent ist?


    Um ganz ehrlich zu sein, sind DAS die Dinge, die ich von einer AKO erwarten würde. Dagegen würde es mich erst einmal überhaupt nicht interessieren, ob mit Buch gearbeitet wird oder nicht, ob es eine Einstiegsphase gibt oder ob Gruppenarbeit gemacht wird. All diese Dinge können (!) Indikatoren für guten Unterricht sein, aber ich halte es schlicht gesagt für einen Irrglauben, aus diesen Elementen entstünde automatisch guter Unterricht.


    Wenn ich also den Eindruck hätte, hier läuft der Unterricht gut, würde ich voll zufrieden sein und davon ausgehen, dass die AKO weiß, was sie tut. Irritieren würde es mich eher, wenn ich nicht nur "Alltags"-Unterricht sehen würde, sondern auch noch den Eindruck hätte, der taugt nichts.

    Der Jahresstoff interessiert imho keinen.


    Geh rein, lächle, sag,
    - wer Du bist,
    - wie Du Noten machst,
    - dass Hausaufgaben gemacht werden müssen
    - dass kleine finanzielle Belastungen auf die Eltern zukommen (Lektüren).


    Dann - ganz wichtig!!! - sag was Nettes über die Klasse, dass sie bisher einen guten Eindruck machen oder so.


    Und: Dass die Eltern sich unbedingt melden sollen, falls es Probleme gibst, und Du Dich ggf. auch melden wirst.


    Zeitdauer: 5-10 Minuten. Keiner will einen Vortrag hören. Falls doch, wirst Dus an den Fragen merken.

    Zitat

    Nein, genau im Gegenteil, du kannst nichts als sinnvoll einschätzen, was du nicht kennst. Also muss bei Unkenntnis der Studie auch die 7+8 mit Nein beantwortet werden!

    Eben nicht ;-). Da Du es nicht kennst, kannst Du es weder als sinnvoll noch (!) als NICHT sinnvoll einschätzen. Streng genommen müsste man also wirklich schreiben "weiß nicht". Aber nehmen wir mal an, das ist mit den "Neins" gemeint ;-).

    Zitat

    ich hab mich ja durchs Net gelesen und bin zu dem Thema mehrfach in ADHS Foren gelandet, in denen Eltern den Ausschluss ihres Kindes von einer Klassenfahrt total ungerecht finden und sich gegenseitig beraten, wie man dagegen vorgehen kann.

    Klar. Wenn etwas schief geht (was auch immer das sein mag) beraten sie als nächstes, wen man dafür haftbar machen kann.


    Zitat

    ich habe den Eltern angeboten, dass er tagsüber teilnehmen kann, dass er morgens gebracht und abends abgeholt wird. Das wurde abgelehnt.

    Klingt für mich nach einem Kompromiss, den man auch allen beteiligten Kindern gegenüber gut hätte begründen können - allerdings für die Eltern vielleicht organisatorisch doch schwer zu machen?

    Zitat

    Wie du schon schreibst, hat es sich zumindest seine Differenzierung selbst gesucht - keine zusätzliche Arbeit für dich. Und deinen anderen 30 Schülern wurde auch nicht langweilig (wobei es ja scheint, als hätte dein Schüler sich immerhin einigermaßen ruhig und in seiner Tischnnähe aufgehalten - man soll ja auch kleine Sachen loben).

    Häha, schön zusammengefasst. An "Inklusion" musste ich auch denken. Ich weiß nur nicht, was die Eltern des Kindes glauben. Dass er unter den gegebenen Umständen eine Zukunft hat? Das ist schon eine ziemliche Vernachlässigung der Verantwortung fürs Kind...


    Aktenstudium ist morgen angesagt, jedenfalls brauche ich mehr Info.

    Große neue Klasse fünf in zu kleinem Raum - alles sehr nett, ein Problemschüler dabei, der mir schon angekündigt wurde. Von der Klassenlehrerin, die ihn schon kennenlernen durfte. Ansonsten: Null Info.


    Ist aber auch nicht nötig, denn das Kind benimmt sich eine ganze Doppelstunde lang ruhig - topp, könnte man sagen. Aber was tut es?


    Zuerst braucht es doppelt solange wie alle anderen, um die Seiten seines Deutschhefts zu nummerieren. Dann geht es darum, ein Inhaltsverzeichnis im Heft anzulegen. Ich mache es an der Tafel vor, alle machen es nach. Das Kind nicht. Ich fordere es in den nächsten zehn Minuten mehrmals leise und freundlich dazu auf, jetzt doch anzufangen, sage es aber nicht vor der ganzen Klasse, sondern (echt pädagogisch) immer im Vorbeigehen - sozusagen "1 zu 1". Endlich: Das Inhaltsverzeichnis entsteht.


    Die anderen schreiben inzwischen den ersten Text von der Tafel ab. Das Kind ist mit dem Inhaltsverzeichnis fertig. Es sitzt auf seinem Platz und liest im Deutschbuch. Ich gebe ihm Zeit, bearbeite es dann ein wenig. Es fängt an zu schreiben.


    Die restliche Klasse und ich sind schon beim dritten Arbeitsschritt: Einen Text einkleben. Ich erkläre die Aufgabe, die dazugehört. Dabei bemerke ich, dass das Kind aufgehört hat, den Tafelanschrieb abzuschreiben. Bzw.: Es ist fertig. Nur hat es die Hälfte des Textes einfach ausgelassen. Top!, denke ich. Das Kind binnendifferenziert sich selbst. Das ist selbstorganisiertes Lernen! Im Moment ist es damit beschäftigt, das Inhaltsverzeichnis zu verbessern, das ich ihm mühsam abgerungen habe. Okay, kein Problem, ist wohl sehr perfektionistisch und langsam, das kriegen wir schon hin. Ich befasse mich mit den dreißig anderen.


    Noch ganz angetan von meiner eigenen pädagogischen Geduld und der Selbständigkeit des Kindes gehe ich mal wieder bei ihm vorbei. Das Kind hat das gesamte Inhaltsverzeichnis wieder ausradiert und gelöscht. Den einzuklebenden Text hat es jetzt eingeklebt, aber an die Stelle, an die das Inhaltsverzeichnis gehört. Blöd nur, dass es den Text nun zu Ende schreiben soll. Es muss jetzt um den unvollständigen Tafelabschrieb herumschreiben. Was andererseits aber auch kein Problem ist, denn es sieht nicht so aus, als wollte es anfangen.


    Ich nehme das Heft an mich und mache eine Notiz für die Mutter. Das Kind sitzt zehn Minuten unter dem Tisch und starrt in seinen Schulranzen. Die Klasse ist begeistert. So also funktioniert Binnendifferenzierung! Das ist ein echtes Methodentraining für die dreißig Kleinen. In der letzten Bank stehen Kinder schon auf, um zu beobachten, was vorne abgeht.


    Danach macht das Kind nichts mehr bis zur Pause. Es sitzt auf seinem Stuhl und guckt herum. Nur als die Banknachbarin noch etwas zu mir sagt, will es mitreden. Sprechen geht. Aber nicht, wenn es angesprochen wird.


    Ich gehe aus der Klasse und frage mich:
    - Wie ist es möglich, dass das Kind bei uns angemeldet wird, wir aber keinerlei Informationen von Grundschule, Schulleitung oder ähnlichen Institutionen haben, die seinen Zustand betreffen? Die Eltern haben wohl auf Nachfrage der KL erklärt, das Kind sei in Therapie, das ist alles, was ich weiß. Ich wüsste aber gerne, was ich mit dem Kind tun soll.
    - Wie ist es möglich, dass das Kind am Gymnasium angemeldet ist, und damit an einer Schulform, die ihm sicher kaum gerecht wird? Nämlich in einer Schule mit großen Klassen und leistungsbezogenem Lehrgang, in der es nicht vorgesehen ist, dass Kinder ein eigenes Tempo (oder überhaupt kein Tempo) haben?
    - Wie hat es an der Grundschule seine guten Noten bekommen?
    - Welche Zukunft hat dieses Kind und wie kann es sein, dass es schon vier Jahre im System ist und doch offenbar keinen Ort hat, der ihm halbwegs gerecht werden würde? Wie viele Jahre trägt das Prinzip Hoffnung?

    Zitat

    Wenn Du Zweifel hast, kannst Du ihn vom Amtsarzt begutachten lassen, der wird dann ein Attest von Therapeuten anfordern.

    Dafür dürfte evtl. die Zeit nicht reichen.


    Wenn ich Dich richtig verstehe, möchtest Du das Kind nicht mitnehmen. Dann lass es. Es gibt schließlich mehr als einen Grund, der eindeutig dagegen spricht:


    (1.) Das Kind war schon vor der Therapie schwierig, das Risiko für Dich ist daher grundsätzlich schwer einzuschätzen.
    (2.) Du hast keine Chance, Dir ein Bild vom Zustand des Kindes nach der Therapie und vor Beginn der Klassenfahrt zu machen, Du hast aber auch keinerlei Zusicherung, dass das Kind fit für eine Klassenfahrt ist (nicht jeder, der nach einem Beinbruch wieder laufen kann, sollte deshalb gleich einen Hürdenlauf machen, ums mal bildlich zu sagen.)
    (3.) Du bist automatisch verpflichtet, auf der Klassenfahrt besonders auf das Kind zu achten, auch wenn dies niemand sagt. Sollte es Probleme geben, wird man Dir immer vorhalten können, gewusst zu haben, worauf Du Dich einlässt - schließlich "war das Kind doch gerade erst in Behandlung, da war doch klar, dass nicht alles top läuft." Das halte ich für eine ziemliche Zumutung.
    (4.) Stellt sich auch für das Kind die Frage, ob es Sinn macht, gleich in eine Ausnahmesituation zu springen.


    Ich würde meinem Schulleiter den Fall schildern und ihm klar sagen, dass ich das Kind nicht mitnehme. Dann kann man gemeinsam überlegen, wie man die Sache schonend kommuniziert.

Werbung