Zitat
woher hat der Leser genau die Information über "mehr und anderes ist, als der Text erzählt"?
Ich als Leser habe den Text, als Informationquelle, sonst nichts.
Stell Dir vor, Du kommst an eine Kreuzung. Dort stehen zwei zerbeulte Autos einander gegenüber. Die Front-Stoßstangen berühren sich, zwei Personen sitzen leichenblass auf den Vordersitzen. Was denkst Du?
a) Bei einem Unfall an einer Kreuzung sind zwei Fahrzeuge frontal kollidiert und zwei Fahrer haben dabei einen Schock oder Verletzungen erlitten.
b) Zwei Autos wurden von einem Schrottplatz geholt und auf der Kreuzung Stoßstange and Stoßstange geparkt. Zwei Junkies sind zufällig vorbeigekommen und haben gedacht, sie könnten sich auf den Vordersitzen ausruhen.
c) Es gibt keine Autos. Es handelt sich um eine Illusion, die von zwei Aliens erzeugt wurde, die sich selbst die Gestalt von Menschen gegeben haben und darauf warten, dass Du näher kommst, um Dich zu fressen.
Ich nehme an, a). Aber woher weißt Du das? Du hast doch "nur" das Geschehen vor Deinen Augen als Informationsquelle, und sein Bild ist womöglich noch unzuverlässig. Ich vermute, Du würdest Dein Weltwissen und Deine Erfahrung für die Deutung der Situation hinzunehmen und keine didaktischen Bedenken haben.
Mit Texten ist es auch nicht viel anders. Sie entwerfen eine Welt, die sich nicht in dem erschöpft, was der Text sagt, sondern die aus dem Gesagten als Horizont im Leser entsteht, der für diese Horizontbildung wiederum Weltwissen verwendet. Wenn ich einen Text lese, der im 18. Jahrhundert spielt (was ich z. B. an Kleidung, Wohnungen, moralischen Vorstellungen und Redeweisen der Figuren erkenne), gehe ich davon aus, dass hier keine Helikopter existieren (außer, es ist ein fantastischer Text, was ich daran sehen könnte, dass in ihm etwa auch Digitaluhren vorkommen). Völlig zurecht akzeptiere ich es als Lehrer daher nicht, wenn ein Schüler z. B. schreibt: "Der Versuch der Gräfin, schwimmend aus dem Schloss zu entkommen, ist nicht besonders klug, denn sie hätte besser eine Flucht mit dem Helikopter vom Dach unternommen."
Dabei gibt es gewisse Standardannahmen. Wenn in einem Liebesgedicht z. B. jemand seine Geliebte anredet, geht man grundsätzlich davon aus, dass diese Geliebte existiert - und nicht, dass der Redende Drogen genommen hat und unter Halluzinationen leidet. Das gilt auch dann, wenn im Text nicht (!) steht: "Ich hatte keine Drogen genommen."
Problematisch ist all dies zugegebenermaßen insofern, als Schüler oft ein noch recht unentwickeltes Weltwissen haben. Aber das ändert nichts am grundlegenden Prinzip.
Unterschieden wird vor diesem Hintergrund auch zwischen Erzählung und Geschichte im Sinne eines Geschehens. Geschichte ist, was passiert(e). Erzählung ist, wie das Passierte dargestellt wird. Unterschiedliche Erzählungen können derselben Geschichte entsprechen. Erzählungen vermitteln zudem wichtige Aspekte der Geschichte meist implizit. Wenn Dir ein Freund erzählt, er hätte am Sonntag Fußball gespielt und sechs Tore geschossen, wirst Du vermutlich annehmen, dass er auf einem ebenen Boden gespielt hat und Teil einer Manschaft war, auch wenn er dies nicht erwähnt.
Geschichte (hier notwendig sprachlich formuliert): Harry und Will gehen in den Zoo. Harry springt in den Löwenkäfig. Der Löwe Kunibert frisst ihn. Willi trauert und macht sich Vorwürfe.
Erzählung I: Noch lange nach dem Unglück saß Willi trauernd auf der Veranda. Nicht nur fehlte ihm Harry seit dem verhängnisvollen Tag im Zoo. Er machte sich auch Vorwürfe, den Sprung in den Löwenkäfig nicht verhindert zu haben. Noch immer hörte er das Knacken, das die Kiefer des Löwen Kunibert beim Kauen gemacht hatten.
Erzählung II: Von dem Moment an, als Harry und Willi den Zoo betraten, ging alles schief. Plötzlich stand Harry auf der Brüstung des Löwenkäfigs - schon war er hineingesprungen. Willi konnte nichts unternehmen. Er sah den Löwen Kunibert, der Harry packte und verspeiste. Noch Wochen später war er von Trauer geschüttelt und von Selbstvorwürfen gebeutelt.