Zitat
Im April las ich im derStandard ein interessantes Interview mit einem deutschen Lernforscher: http://derstandard.at/1334368981969/Hirn…flichterfueller
Es passt inhaltlich zum Ausgangsposting, auch wenn ich selbst hin- und hergerissen bin, wenn ich mir das Interview anhöre.
Nett finde ich, wie er sagt: "Lehrer tun mir ja eigentlich leid."
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Es scheint ein Lehrerphänomen zu sein, dass man nun schon stolz darauf ist, in seiner Arbeit von Dilettanten bemitleidet zu werden. Etwas mehr Selbstbewusstsein wäre vielleicht doch angebracht.
Was Herrn Hüther angeht:
1. Der Mann ist kein Lern-, sondern ein Hirnforscher.
2. Er hat zum Thema Schule und Unterricht de facto weder etwas Neues noch überhaupt etwas zu sagen.
3. Sämtliche seiner vermeintlich praxisorentierten Vorschläge entsprechen im Großen dem reformpädagogischen Ansatz und sind damit gut 100 Jahre alt. Eine handlungs- oder praxisrelevante Eigenleistung (!) seiner Disziplin ist nicht zu erkennen.
4. Das Interview besteht in einer fast schmerzhaften Weise nur aus einer Aneinanderreihung von Klischees, wie sie etwa in der Kontrastierung des "begeistert und intuitiv lernenden" Kleinkindes mit dem "entfremdeten" Schulkind gegeben sind.
5. Es bleibt dabei vage genug, um auf keine einzige Frage eine Antwort zu geben, die in der Bildungsdiskussion wichtig ist. Die einseitige Propagierung interessensbezogenen und situativen Lernens etwa lässt unbeantwortet, wie genau kulturrelevante Fähigkeiten in der modernen Welt auf diese Weise von einer möglichst hohen Zahl von Kindern (!) erworben werden sollen. Sie blendet aus, dass eine einseitige Fokussierung auf situatives Lernen die Bildungsungerechtigkeit vergrößern muss und sie übersieht, dass sie selbst eine Mittelstandsideologie propagiert, die vor allem im Kontext bereits gut gebildeter, vielseitig interessierter, saturierter Haushalte funktioniert.
6. Das Interview ist darüber hinaus in hohem Maße selbstwidersprüchlich. Zunächst wird sinngemäß festgestellt, dass Lernen nur durch Begeisterung funktioniert, in der Schule also scheinbar nicht möglich ist. Später wird diese These jedoch leise wieder kassiert. Dies gilt zumindest, wenn man unterstellt, dass eine 1,0 im Abschluss belegt, dass etwas gelernt wurde. Nun wird aber behauptet, zwar sei etwas gelernt worden, aber dadurch seien psychische Deformationen entstanden, die Menschen sogar für das Berufsleben unbrauchbar machen würden. Man muss kaum erklären, dass dies empirisch nicht haltbar ist. Menschen, die zur Arbeit unbrauchbar sind, sind dies grundsätzlich nicht, weil sie zuviel, sondern weil sie zuwenig Schulbildung erhalten haben. Das zu widerlegen, dürfte auch für die Hirnforschung unmöglich sein.
7. Empirisch nicht haltbar ist auch die Kritik an den Lehrern. Zwar gibt es Daten, die zeigen, dass schlechte Lehrer über Jahre nachwirkende Schäden anrichten
(wieder einmal alles nachzulesen in der Meta-Analyse von Hattie). Alle empirischen Daten deuten jedoch auch daraufhin, dass sich eine starke Lehrerpräsenz positiv auf das Lernen auswirkt und für dieses Lernen völlig unverzichtbar ist. Das bedeutet nicht, dass es Frontalunterricht geben muss, aber es bedeutet, dass auch in neuen Arbeitsformen eine enge Bindung des Arbeitens an Lehrer, ihre Vorgaben und Rückmeldungen unverzichtbar ist.
8. Unbeantwortet bleiben hier - wie immer in solchen Interviews - zahlreiche Grundfrage, z. B.:
- Wie ist es möglich, dass sich zehntausende - und global gesehen: hunderttausende - gut ausgebildeter Personen (=Lehrer) unablässig darin täuschen, wie Lernen sinnvoll zu organisieren ist? Wie kann es sein, dass all diese Personen in ihrer Arbeit offenbar völlig fehlgehen und deshalb sogar Menschen, die diese Arbeit nie selbst praktiziert haben, besser wissen, wie sie zu machen ist, als die Praktiker?
- Weshalb konnten sich in über hundert Jahren reformpädagogische Ideen immer nur in Teilen durchsetzen, wenn offensichtlich ist, dass sie anderen Methoden hochgradig überlegen sind?
- Weshalb werden dort, wo ausschließlich situatives Lernen existiert (nämlich heutzutage nur noch: in Entwicklungsländern), keine Mondraketen gebaut? Und wenn es an fehlenden Ressourcen im Land liegt: Weshalb sind die Labore in den industrialisierten Ländern nicht mit Migranten aus diesen Ländern überflutet, die dank ihrer naturwüchsigen Begeisterung und Kreativität unsere Energieprobleme lösen und Medikamente gegen Alzheimer erfinden?