Ich muss leider feststellen, dass der von Dir verlinkte Blogeintrag - der keineswegs eine "seriöse Untersuchung" darstellt - imho nicht ganz ernst zu nehmen ist. Er gibt nicht nur den "Spiegel"-Artikel zum Teil falsch wieder, sondern enthält eine Reihe eher seltsamer Behauptungen. Z. B.:
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Zuerst einmal trifft vieles von dem, was über mangelhafte Rechtschreibung gesagt wird, auch auf andere Kenntnisbereiche zu. Vor allem die Tatsache, dass der Bildungshintergrund in Deutschland entscheidend für den Schulerfolg ist, gilt für den Erfolg insgesamt, keineswegs nur für den Schriftspracherwerb (auch wenn dieser einen großen Teil davon ausmacht). Insofern müsste man korrekterweise von einer Bildungskatastrophe sprechen – und dann wäre auch klar, dass diese nicht an bestimmten Lehrinhalten und deren Vermittlung hängt.
(1.) "Schulerfolg" und "Kenntnisse/Können" am Ende der Grundschulzeit lassen sich nicht einfach verrechnen. Es gehört zur Standardkritik an der deutschen Schule, dass schulische Karrieren (!) sich NICHT nur in Abhängigkeit von Wissen und Können vollziehen. Es ist daher unzulässig, Rechtschreibprobleme mit allgemeinen Schulerfolgs-Fragen in einen Topf zu werfen. Daraus, welchen Erfolg Schüler aus bildungsnahen oder -fernen Schichten im deutschen Schulsystem haben, kann man eben nicht schließen, wie gut sie schreiben oder andere Dinge tun. Hier geht es um zwei verschiedene Probleme.
(2.) ist es falsch, so zu tun, als würde in den einzelnen Schulen alles gleich gut oder gleich schlecht unterrichtet. Natürlich gibt es an allen Schularten Dinge, die besser, und Dinge, die schlechter gelehrt oder gelernt werden. Es geht um einzelne Fähigkeiten, die oft auch einzeln messbar sind. Und natürlich muss man darüber nachdenken, wie sie einzeln zu verbessern sind. Deshalb geht es natürlich um einzelne Lehrinhalte und Vermittlungsmethoden. Wenn der Eindruck entsteht, dass Kinder schlecht rechnen, muss der Mathematikunterricht verbessert werden, nicht der Kunstunterricht. Der Hinweis "irgendwie" gehe es um eine "Bildungskatastrophe", nämlich "um alles" nützt hier nichts.
(3.) geht es beim Rechtschreiben um eine Basis-Fähigkeit, die "keine komplexeren kognitiven Fähigkeiten" erfordert (so Steinig auf S. 385 der von Goschler lobend erwähnten Studie). Es ist - vorsichtig gesagt - ein Alarmzeichen, wenn diese Fähigkeit nicht mehr hinreichend vermittelt werden kann. Es geht hier letztlich um prozedurales Wissen, das in der Regel durch Üben erworben werden kann. Wir reden nicht darüber, dass Kinder die Relativitätstheorie verstehen sollen. Wir reden über Dinge, die traditionell fast alle Kinder erwerben konnten.
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Konzentriert man sich auf Rechtschreibung, so ist die Studie des Siegener Germanisten Wolfgang Steinig sicher am interessantesten.
Dem ist wohl zuzustimmen. Allerdings ist auch klar, dass Frau Goschler diese Studie nicht gelesen hat, sondern bestenfalls die Medienberichterstattung darüber (die sie hoffentlich nicht dem "Spiegel" entnommen hat). Wenn sie die Studie gelesen hätte, hätte sie bemerkt, dass das von ihr gebrachte Zitat Wissenschafts-Rhetorik ist. Ein Autor stellt sich gegen einen gefühlten pädagogischen Mainstream und formuliert entsprechend vorsichtig. Wenn Frau Goschler die Studie gelesen hätte, wüsste sie auch, dass das
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Die positiven Aspekte der Veränderung werden aber im SPIEGEL komplett unter den Tisch fallen gelassen.
eine problematische Aussage ist. Frau Goschler tut so, als würden negative Effekte durch positive Effekte an anderer Stelle ausgeglichen. Die "positiven Aspekte" der Veränderung sind aber schichtspezifische Effekte und zeigen sich nur bei einem privilegierten Teil der Schülerschaft. Negative Effekte dagegen gibt es bei allen Schülern. "Etwas sarkastisch könnte man anmerken, dass die heutige Grundschule zuverlässiger und genauer selektiert als die der 1970er Jahre" (Steinig, S. 385) - und zwar nach Herkunft.
Übrigens ist ungeklärt, welchen positiven Einfluss die Eltern (!) der bildungsnahen kinder auf deren Schreibfähigkeiten haben und wie die Ergebnisse aussähen, wenn es diese Eltern nicht gäbe.
Schließlich enthält Frau Goschlers Text vor allem starke Thesen, wie diese:
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verzögert sich die Entwicklung einer normgerechten Orthografie – aber in der Zeit werden dafür Dinge gelernt, die früher überhaupt nicht Teil der Grundschulausbildung waren. Dass die Ausbildung einer korrekten
Rechtschreibung in vielen Fällen auch später nicht erfolgt, liegt an verschiedenen Problemen, aber nicht vorrangig an diesem.
Welche Probleme denn nun ausschlaggebend sind, erfahren wird leider nicht.
Der Text enthält eine Menge Mittelschichten-Arroganz, wie hier:
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Wow – “kannst du einen Riesen anfassen?” Wenn solche Weisheiten den Zerfall der Rechtschreibnation verhindern sollen, dann könnte meinetwegen auch alles so bleiben, wie es ist. Viel schlimmer kann es aus sprachwissenschaftlicher Sicht nämlich kaum noch werden. Man wünscht sich, der Schüler hätte korrekterweise geantwortet, dass man einen Riesen nicht anfassen könne, da es keine Riesen gebe.
Man muss es leise sagen: Es geht nicht um Sprachwissenschaft und nicht um eine ontologische Diskussion über die Frage, ob es Riesen gibt. Es geht darum, dass Kinder (!) korrekt Schreiben lernen.
Was bleibt, ist der Wunsch nach Wärme:
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Sondern es geht vor allem gegen eine bestimmte Art, mit Kindern umzugehen, nämlich respektvoll statt autoritär, ermutigend statt bestrafend, kreativ statt normativ.
Das aber ist ganz einfach eine Unterstellung, die durch den Artikel nicht gedeckt ist.