Da mir das angepriesene "Mut zur Macht" noch nicht vorliegt (leider in meiner Bib nicht vorhanden -- und kaufen möchte ich es mir eigentlich eher nicht), zunächst ein paar Anmerkungen zu Hilbert Meyer (und Klafki).
Irgendwie ist es gemein, gerade die Didaktiker als praxis-untauglich zu brandmarken, die den Lerner- oder den Gegenwartsbezug ins Zentrum ihres Denkens stellen. Gerade Hilbert Meyer hat in seinem Leitfaden zur Unterrichtsvorbereitung den Ausdruck "Feiertagsdidaktiken" geprägt, um ebenjene Didaktiken zu kennzeichnen, die von unrealistischen Lern-Lehr-Bedingungen ausgehen.
So schreibt Meyer in seiner "Türklinkendidaktik" im Zusammenhang mit dem in Oldenburg zur damaligen Zeit einmaligen Umstand, dass angehende LehrerInnen vom 1. Semester bis zum 2. Staatsexamen an der Uni betreut wurden (z.B. von Hilbert Meyer -- evtl. hat er also doch etwas mehr "Praxisluft" geschnuppert als hier vermutet wurde) S. 84:
"Es ist deshalb kein Zufall, dass wir es uns gerade in der Lehrerbildung an der Universersität Oldenburg angewöhnt haben, die gängigen didaktischen Theorien [...] spöttisch als *Feiertagsdidaktiken* zu glossieren".
und zwar WEIL:
- der Berufanfänger mit den gängigen Didaktiken schlecht bedient sei, da die psycho-soziale Komplexität des Unterrichens ausgeklammert werde
- der routinierte Lehrer feststelle, dass die Vorschläge mit seiner Alltagssituation so gut wie nichts zu tun haben
- der Prüfungskandidat zwar sein Wissen über die Didaktiken als hohen Tauschwert für seine Examina bereithalten könnte, es aber für den Unterricht geringen Gebrauchswert hätten
Eine berechtigte Frage wäre dann: gelingt es etwa auch Hilbert Meyer nicht, eine "praktische" Didaktik vorzulegen? Oder verwandelt sich beim Transfair von Oldenburg in die jeweiligen Studienseminare eine praktische in eine Feiertagsdidaktik, auf die genau das zutrifft, wogegen Meyer sich ausspricht?
1983 (und das heißt unter dem lähmenden Eindruck, dass rund 90% der Lehramtsstudierenden nach ihrem Studium arbeitslos wurden) schreibt Meyer in seinem Aufsatz "Aneignungsschwierigkeiten didaktischen Theoriewissens" über die prinzipiellen Schwierigkeiten theoretisches Wissen in nutzbares Handlungswissen zu überführen und fordert "eine stärker biografisch orientierte Vorbereitungstheorie und -praxis" (Türklinkendidaktik, S. 72 ff.). Er fordert zB:
- Keine didaktische Theorie ohne "das wunderliche Gefühl, plötzlich allein vor der Schulklasse zu stehen und die Regie übernehmen zu müssen" (S. 90).
- Widerstände müssten "körperlich" und nicht "im Kopf" erfahren werden (vgl. ebd.).
- "Die Erfahrung, dass über die Unterrichtsmethoden Gewalt über die Schüler ausgeübt wird, erschreckt und verwirrt viele Studierende. 'Rein theoretisch' ist diese Erfahrung nicht zu vermitteln." (ebd.).
D.h. gerade Meyer plädiert *nicht* für didaktische Theorie (wie sie evtl. an Studienseminaren gelehrt wird), sondern für eine Didaktik, die auch über konkrete Praxis vermittelt wird.
Folgerichtig präsentiert Hilbert Meyer daran anschließend ein "Plädoyer für die Wiederbelebung des Frontalunterricht", der zB geeigenet scheint "Spielregeln für die Kommunikation" (a.a.O., S. 96) einzuüben (z.B. Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale, Melde- und Drannehmetechniken), ohne dabei zu übersehen, dass Frontalunterricht die Selbstdisziplinierung der SchülerInnen behindert (vgl. ebd.).
Schließlich bricht Meyer in seinem Aufsatz "Türklinkendidaktik" (S. 119ff.) eine Lanze für alle LehrerInnen, die eben nicht immer Zeit haben ihren Unterricht stundenlang vorzubereiten und führt damit das Thema "Kurz- oder Kürzestvorbereitung" überhaupt erst in die didaktische Diskussion ein.
In seinem neuen "Leitfaden" von 2007 (S. 22) bringt Hilbert Meyer ein schönes Beispiel, warum man mit Praxis-Rezepten allein nicht weit kommt: Unter den TOP 18 der "Lehrerrezepte" finden sich so hilfreiche wie:
- In jeder Unterrichtsstunde wenigstens einmal kräftig lachen!
- Nicht zur Tafel, zu den Schülern sprechen!
- Keine Stunde ohne Methodenwechsel
auch solche, über deren Anwendung oder Ablehnung man nur entscheiden kann (und ich würde für eine Ablehnung stimmen), wenn man neben den bloßen vermeintlichen Nutzen auch über theorie-gestärke Entscheidungsmöglichkeiten verfügt:
- Einzelne Schüler herauspicken - nicht die ganze Klasse anbrüllen!
- Lass dir vor Beginn des Unterrichts vom Klassenlehrer den schlimmsten Störer nennen und "verkleinere" ihn in der ersten Stunde!
- Schülern nie den Rücken zukehren!
Die Frage, die sich mir stellt: Wenn nicht Hilbert Meyer (und Wolfgang Klafki): welche Alternativen gäbe es?
Ob Vera Frey ebenso reflektiert wie Hilbert Meyer über das Lehrer-Dasein zu schreiben vermag, kann ich noch nicht sagen. Sobald mir ihre "praktische" Didaktik vorliegt, werde ich mich auch dazu noch einmal äußern.
Gruß,
ambrador