Meint ihr, ich sehe das zu naiv, positiv, blind?
So würde ich das nicht formulieren: Würde eher sagen, du siehst das (meiner Meinung nach) zu optimistisch.
"Naiv" finde ich in diesem Zusammenhang zu abwertend und die Sichtweise wäre es nur, wenn offensichtliche Warnzeichen und wissenschaftliche Fakten übersehen worden wären - z. B., wenn sog. "Querdenker" der Ansicht sind, Corona sei nur ne Grippe und mit einem gesunden Immunsystem sei das leicht zu packen.
Nun ist es aber so, dass seit Beginn der Pandemie ständig das Narrativ (auch immer wieder gegen warnende Stimmen) bedient wurde, Covid sei für Kinder nicht zu gefährlich (ganz zu Anfang war es sogar so, dass hartnäckig behauptet wurde, Kinder würden sich nicht anstecken und auch nicht das Virus verbreiten etc., obwohl bereits da - Anfang 2020 - die Ärzte in den Kliniken Italiens ganz andere Beobachtungen gemacht haben.)
Im Übrigen ist ja in der öffentlichen Wahrnehmung schon allein durch die Begriffsformulierung der Kern dafür angelegt, eine Covid-Infektion tendenziell als eher zu harmlos (wenn wenige Initialsymptome) als zu gefährlich zu betrachten, und zwar, indem man von Beginn an zur Beschreibung dafür die Wörter "milder Verlauf" und "genesen" verwendet hat.
Kein Mensch hat davon gesprochen (oder tut es jetzt), dass Covid-Infizierte wenige Initialsymptome haben (was zumindest in der Wahrnehmung nicht ausschließt, dass Langzeitfolgen auftreten können), oder "genesen" mit "kein Virus mehr nachweisbar im Rachenabstrich" gleichgesetzt (und auch da wäre zumindest theoretisch klar, dass genesen nicht automatisch als Synonym für gesund angenommen werden kann).
Hat man nun aber nicht gemacht, und wenn Abend für Abend die neuen Coronazahlen und Dashboards in den Nachrichten vorgelesen werden, erfährt ganz Deutschland, dass so und so viele genesen sind; dass es so und so viele Fälle auf den Intensivstationen (vergleichsweise sehr wenige) und so und so viele einen "milden Verlauf" haben (vergleichsweise sehr viele). Das macht natürlich etwas mit der öffentlichen Wahrnehmung und auch mit der individuellen Gefährdungsbeurteilung der Situation durch den Einzelnen.
Denke, das wird in einigen Jahren, wenn man historisch auf die Covid-Pandemie zurückblickt (oder, je nachdem, auf die Anfangszeit) auch als Fehler eingestuft werden, dass man so eine ungenaue Terminologie verwendet hat (aber auch erklärbar, wir hatten/ haben ja keine Erfahrungen damit).
Verständlich ist es natürlich, dass man sich wünscht (und es besteht ja durchaus auch eine gute Chance), dass eine Covid-Infektion für Kinder unproblematisch verläuft (vor allem vor dem Hintergrund, dass innerhalb der nächsten drei Monate sich die allermeisten ungeimpften jetzt infizieren werden).
Aber ob das eine Sichtweise ist, die tatsächlich die Realität abbildet? Ungewiss.
Ich würde eher sagen, nein.
Immer mehr Untersuchungen zeigen, dass Covid auch (von Betroffenen ganz unbemerkt) zu Organschädigungen führen kann, die erst in Jahren, vielleicht auch Jahrzehnten sich in ihrer Auswirkung zeigen.
Heute erst wieder hat die NYT einen großen Artikel darüber gebracht, dass eine "milde" Infektion zu langfristigen Nierenschäden führen kann, die die Lebensdauer der Nieren verkürzen kann. (ich verlink den Artikel auch gleich im Faktenthread)
Möchte man wirklich gesunde Kinder dem Risiko aussetzen, in ein paar Jahrzehnten vorzeitig dialysepflichtig zu werden? Ich würde das klar verneinen, und zwar auch dann, wenn es ich "nur" mal wieder um die vielzitierten Einzelfälle handelt.
Das Risiko ist in meinen Augen viel zu groß.
Problem: Dann wird man eben gern wieder in die "Panikmache"-Schublade gesteckt. Kein Mensch kann zum jetzigen Zeitpunkt sagen, welche Folgeschäden Kinder durch eine Covid-Infektion davontragen. Kann statistisch gesehen sich im Rahmen anderer Infektionskrankheiten des Kindesalters bewegen; kann aber auch ganz anders sein. Natürlich hofft man auf die erste Möglichkeit. Aber ob man damit auf das richtige Pferd setzt, das weiß niemand.
"There is no glory in prevention", galt vor einem Jahr, gilt nach wie vor.