Hallo zusammen!
Als bayerisches Akademikerkind und mittlerweile Repräsentant des von Herrn Maurer - in Teilen wohl leider durchaus treffend dargestellten - bayerischen Schulsystems muss ich auch ein paar Anmerkungen zu dem Artikel loswerden.
Zum einen sind die Beobachtungen wohl durchaus treffend. Mein Übertritt ans Gymnasium wurde von meiner damaligen GS-Lehrerin als selbstverständlich betrachtet - wohl weniger wegen meiner Leistungen (die waren mittelprächtig) als wegen der Tatsache, dass für mich als Lehrerkind aus ihrer Sicht wohl nichts anderes in Frage gekommen wäre. Aus meiner 20-köpfigen GS-Klasse sind dann fünf oder sechs aufs Gymnasium gegangen (damals eine völlig normale Quote). Unter den Eltern der übrigen Klasse waren, soweit ich das aus der Erinnerung zusammenkriege, keine Akademiker.
Am Gymnasium (ein damals als extrem konservatives, geradezu reaktionär geltendes Kleinstadtgymnasium) war das Bild dann aber ein anderes - denn auch in meiner 5. Klasse mit Latein als 1. Fremdsprache gab es (IIRC) kaum Akademikerkinder. Ich erinnere mich an etliche Handwerker- und Facharbeitereltern, könnte jetzt aber niemanden aus den typischen Akademikerkreisen ausmachen. Natürlich waren die Kinder der Ärzte, Anwälte, Lehrer und Unternehmer des Städtchens auch alle auf dem Gymnasium, das ist eh klar.
Die meisten dieser Mitschüler haben das Gymnasium allerdings später verlassen, viele nach der 10. Klasse, als die Mittlere Reife in der Tasche war. Viele von denen sind dann aber ins nahe Baden-Württemberg oder Hessen gegangen, um dort auf FOS oder Wirtschaftsgymnasium weiterzumachen.
Insofern kann ich die Erlebnisse, die Marco Maurer in dem Artikel schildert, durchaus nachvollziehen. Man sollte aber nicht vergessen, dass wir von den achtziger Jahren reden, als der Standesdünkel nochmal ein gutes Stück ausgeprägter war als heute. Deshalb ist es mir auch völlig unverständlich, dass eine Realschulrektorin im Jahr 2012 die "Arbeiterkinder"-Initiative auslädt, weil sie befürchtet, man könnte ihren Schülerinnen "Flausen" (oh, dieses Lieblingswort aller Beschränkten!) in den Kopf setzen. Unverständlich deshalb, weil es seit mehr als zehn Jahren erklärte Politik Bayerns ist, unter Beibehaltung des gegliederten Schulsystems auch Nicht-Gymnasiasten das Abitur zu ermöglichen; deshalb der massive Ausbau der FOS mit flächendeckendem Angebot von FOS13 und allgemeiner Hochschulreife. Der Vorwurf, man könne im bayerischen Schulsystem nach der Selektion in der 4. Klasse nicht mehr aufsteigen, ist also so nicht richtig, zumal auch Hauptschüler aus dem M-Zug die Berechtigung erlangen können, an der FOS das Abitur zu machen (und das in mittlerweile nennenswerter Zahl auch tun).
Auch der zweite Bildungsweg eröffnet zahlreiche Wege, wenn auch vielleicht ein paar Jahre später, doch noch eine Universität zu besuchen, angefangen von der BOS über das Meister-Abitur hin zu den diversen Möglichkeiten, bestimmte Fächer auch ohne formale Hochschulzugangsberechtigung zu studieren, wenn man genügend Berufserfahrung mitbringt.
Knackpunkt des Artikels ist meiner Meinung nach also vielmehr folgendes:
Zitat
Lehrerempfehlungen werden von Angehörigen einer bildungsfernen Schicht –dazu zählt meine Mama – meist hingenommen. Akademiker dagegen kämpfen
um die Zukunft ihrer Kinder, sie schieben sie mit aller Macht in
Richtung Abitur.
Noch entscheidender könnte das hier sein:
Zitat
Als ich mich nach der Lehre entschloss, das Abitur nachzuholen,
stieß ich auf Unverständnis. Im Sportverein, unter Elektrikern,
Friseuren und Gärtnern, war ich ab sofort »der Student.« Das hieß so
viel wie: der Exot, der Spinner, der nichts arbeitet, vielleicht
nie arbeiten wird.
Und genau das, diese Bildungsaversion ist es, gegen die kein noch so durchlässiges Schulsystem ankommt und je ankommen wird, so lange die Schullaufbahn der Kinder den Eltern überlassen bleibt. Wobei hier IMHO die Hoffnung besteht, dass es doch langsam einen Bewusstseinswandel gibt, seit unser Land immer weniger Molkerei- und sonstige Facharbeiter braucht.
Ich könnte hier noch das Beispiel einer gleichaltrigen Cousine anführen, die eine ähnliche Karriere wie Marco Maurer hinter sich hat (Hauptschule, Lehre als Reno-Fachangestellte, Abitur nachgeholt, Jurastudium, heute Oberregierungsrätin in einem Bundesministerium) - auch mein Vater war der erste (und in seiner Generation einzige) Akademiker in einer Bauernfamilie, und Sprüche wie die im zweiten Zitat kenne ich ebenso gut wie meine Cousine.
Viele Grüße
Fossi