Sorry, dass ich hier so gouvernantenhaft euren Plausch störe. Meine Meinung ist: alle Kevins, Marvins und Chantals dieser Welt haben ein Recht, so gut es irgend möglich ist, die Schlüsselqualifikationen Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelt zu bekommen. Und zwar mit der Lehrmethode, mit der es am besten funktioniert. Wenn das im zarten Alter von sechs bis zehn nicht der Wochenplan ist, müsst ihr was anderes anwenden, anstatt das Kind zum Arzt zu schicken. Was soll der denn daran ändern? Allen Kindern Ritalin verschreiben, damit ihr weiter Wochenpläne malen könnt? Wir Berufsbildungslehrer können ein Lied davon singen, was mit euren Kevins passiert, wenn ihr das nicht beherzigt.
Beiträge von craff
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Hallo caliope,
möchte meine Empfehlung noch etwas revidieren, nachdem ich mir die von heloise mehrfach empfohlene website "grundschulservice" zu Gemüte geführt habe. Ich komme aus der Berufsbildung und bin dort Seiteneinsteigerin. Bin in diesem Forum gelandet, um die Frage zu klären, warum ich nur noch rudimentär Fachunterricht durchführen kann, sondern de facto Rechtschreibung, Grammatik und die Grundrechenarten vermittle, denn das haben unsere Azubis am allernötigsten.
Der Betreiber der website kritisiert pointiert bis polemisch etliche der neueren Methoden des Anfangsunterrichts - allerdings scheinen die von ihm zitierten Quellen, in erster Linie große empirische Untersuchungen, über jeden Zweifel erhaben zu sein.
Ich habe mir nun sehr intensiv Mühe gemacht und die Gegenseite genau angeschaut, um in einer Kontroverse auch die anderslautenden positiven Daten zu kennen. Ich habe mir die Literaturquellen angeschaut, auf die sich die Erfolge von Sommer-Stumpenhorst und "Lesen durch Schreiben" - eine im Anfangsunterricht sehr ähnliche Methode - berufen. Dabei habe ich mein blaues Wunder erlebt. Jede dort genannte Quelle - die also die Wirksamkeit der oben genannten Methoden zeigen sollen - ist quasi selbstreferentiell - also eine positive Aussagesammlung, die auf weitere positive Aussagen hinweist, ohne auch nur ein einziges Mal hard data - wirklich aussagekräftige positive Studien - zu liefern. Die einzig klare Aussage, die ich gefunden habe, war von Jürgen Reichen, dem Erfinder der Methode "Lesen durch Schreiben". Er beschreibt unmissverständlich, dass ein einziger seiner achtzehn Schüler nach seiner Methode lesen und schreiben lernen konnte, die anderen reagierten ablehnend bis aggressiv.Nun - jetzt braucht es nur ein bisschen Fantasie und das Wissen, wie es woanders läuft, um zu extrapolieren, wohin die Entwicklung gehen wird.
In letzter Zeit ist viel von Individualisierung im Unterricht die Rede. Dann wird der siamesiche Zwilling, die Individualisierung der Verantwortung, gewiss bald folgen. Schüler werden heute immer häufiger gescreent und bewertet, Material ist also vorhanden. Von anderen akademischen Disziplinen wird vor Gericht völlig selbstverständlich erwartet, dass jeder einzelne, der eine Intervention vornimmt - z.B.eine medizinische Behandlung - sich zum Zeitpunkt der Anwendung eigenständig einen aktuellen Überblick über den Stand der Forschung verschafft hat und das bestmögliche Verfahren anwendet. Würde zum Beispiel ein Ingenieur oder ein Chirurg im Schadensfall vor Gericht vorbringen, er habe ein Verfahren angewandt, das er kennt und mit dem er seit zwanzig Jahren gute Erfahrungen gemacht habe, wäre ihm im Fall einer anderslautenden wissenschaftlichen Datenlage der Schadensersatz sicher.
Es könnte also sein, dass ein zum Schuleingang risikofrei getesteter Schüler, der beim Übertritt auf eine weiterführende Schule eine LRS attestiert bekommt, höherinstanzlich einen Zusammenhang mit der gewählten Lehrmethode nachweisen kann. Das ist bei der Eindeutigkeit der Daten sogar naheliegend. Die Erfahrungen anderer Disziplinen zeigen: verantwortlich gemacht wird nahezu immer der Anwender als letztes Glied in der Kette.
Und aus diesen Überlegungen heraus resultiert meine Zusatzempfehlung: dokumentiere gerichtsfest, dass du und von wem du beauftragt worden bist, nach der Methode Sommer-Stumpenhorst zu unterrichten. Und such dir eine gute Berufshaftpflichtversicherung. -
heloise: Danke für Deinen Hinweis. Ich möchte aber noch mal nachfragen:
[quote]Original von Benno
"Tatsache ist aber, dass mittlerweile die Kinder mit Schwierigkeiten eingeschult werden, die es vor dreißig Jahren in dieser Form nicht gab. Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen sind eher die Regel als die Ausnahme. Gibt es heute noch Kinder, die nicht mindestens schon eine Ergotherapie hinter sich haben? Oder die schon etliche Stunden in der Logopädie verbracht haben? Soll ich allen Ernstes sämtliche Lernvoraussetzungen ignorieren und so tun, als gäbe es immer noch das Durchschnittskind von vor dreißig Jahren???"
Dass Erstklässler heute so viel schlechter sein sollen als vor dreißig Jahren deckt sich nicht mit meinen eigenen Erfahrungen. Meine Annahme ist vielmehr, dass einige der neueren Methoden Ursache der Störungen ist, deren Lösungen zu sein sie vorgeben. Ich denke nicht, dass heutige Kinder zum Zeitpunkt der Einschulung in so viel höherem Maße verhaltensgestört sind. Vernachlässigung(Struwwelpeter), Aggressivität (Der böse Friederich) Pyromanie (Paulinchen), Magersucht (Suppenkaspar), Daumenlutschen (Konrad), Hyperaktivität (Zappelphilipp), Wahrnehmungsstörung(Hans-guck-in-die-Luft) gab es schon vor über hundert und auch vor dreißig Jahren. Allerdings scheinen manche Methoden mit ihrem Mix aus Überforderung und Unterbeschäftigung Verhaltensauffälligkeiten vielleicht eher zu verstärken als früher.
Weil Du so gut über empirische Studien Bescheid weißt, möchte ich meine Frage an Dich noch einmal präzisieren: Sind Verhaltensauffälligkeiten bei Schuleintritt heutzutage häufiger als früher? Wenn Sie häufiger sind, in welchem Lebensalter stellen sie sich ein?
Kannst Du darüber etwas sagen? -
Kann "audilex" empfehlen. Fördert sprachunabhängig genaues Hinhören, macht Spaß, die Kinder fühlen sich nicht so belehrt, allerdings sehr gute Anleitung/Einarbeitung notwendig. Auf der Buchstaben- und Wortebene ist die preiswerte CD-Rom des Tobi Arbeitsheftes 1 von Wilfried Metze (Cornelsen Verlag) richtig gut und motivierend gemacht.
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Ich finde den Vergleich moderne - antiquierte Methoden wenig zielführend. Sollte es nicht vielmehr um Qualität gehen? Ich zumindest vergleiche heutige Schüler im Jahre 2008 miteinander, nicht irgendwelche antiken Puppen mit modernen Geschöpfen und da fallen mir in der Tat große Unterschiede auf.
Mein dringender Verdacht ist, dass manche Methoden Hyperaktivität und Konzentrationsschwierigkeiten ebenso wie LRS nachgerade fördern, andere weniger. Natürlich nicht immer und nicht bei allen Schülern, aber eben in der Tendenz. Schüler unterscheiden sich bei der Einschulung sehr stark - keine Frage. Dass sie sich stärker unterscheiden als vor 30 Jahren - mal abgesehen von Schülern mit Migrationshintergrund - wage ich zu bezweifeln. heloise: Gibts hierüber Studien?
lissis: Dass die Kompetenz des Lehrers immer im Vordergrund steht, bezweifelt sicher niemand. Dennoch sollte auch das Handwerkszeug genau betrachtet werden dürfen.
Letztendlich kommt es mir darauf an, darauf hinzuweisen, dass einen guten vom schlechten Rechtschreiber mehr als der mouseclick zum Rechtschreibprogramm unterscheidet. -
Rechtschreibung greift unmittelbar iin Lebensläufe von Schülern ein. Wer als angehende Arzthelferin keinen passablen Arztbrief zustande bringt, wird aus dem Lehrverhältnis nicht übernommen, da kann sie noch so freundlich sein. So ist das, das ist meinen Schülerinnen ein paarmal passiert.
Meiner Beobachtung nach hat insbesondere die Schuleingangsstufe bewirkt, dass Schüler heutzutage so viel schlechter schreiben als noch vor wenigen Jahren, weil sie Kollegen dazu zwingt, die Schüler nicht mehr direkt an Buchstaben und Wörter heranzuführen, sondern indirekte Methoden anzuwenden,
Ich habe meine guten und schlechten Rechtschreiber nach der Lehrmethodik befragt. Am besten schreiben diejenigen, die in der ersten Klasse Buchstabe für Buchstabe gelernt und Wort für Wort geschrieben haben.
Bei den anderen (Reichen-Methode, "Lesen durch Schreiben", Rechtschreibwerkstatt etc.) schneidet nicht etwa isoliert die Rechtschreibung mangelhaft ab, Ausdruck, Grammatik und Satzbau leiden ebenso, selbst bei Schülern, die recht viel lesen.schoko-meiki: Meine eigenen Kinder mit weitem Altersabstand haben sehr verschiedene Schriftsprachmethoden erlebt, oder sollte man sagen: erlitten. Bei meinem jüngsten Kind bin ich selbst auf die Suche nach einer guten Methode gegangen, weil ich das Hinterherkorrigieren so unendlich leid war. Schau mal IntraAct plus von Jansen/Streit, erschienen im Springer Wissenschaftsverlag, an. Damit habe ich meine Tochter allen Warnungen zum Trotz bei Erstleseunterricht nach Reichen nebenher beübt. Mein Kind hats gemocht. Und liest in der zweiten Klasse so gut wie ihre Schwester in der 5 und ist fast besser in Rechtschreibung. Die Methode ist noch recht neu, ich kennne keine Erfahrungen mit einer ganzen Klasse. Das Konzept ist aber sehr klar und schlüssig, könnte mir also vorstellen, dass das auch im Klassenverband gut funktioniert.
Bin gespannt, ob jemand aus dem Forum dazu etwas sagen kann.
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