caliope
Von mir kommt eine Eltern-, keine Lehrerantwort. Von meinen vier Kindern hat eins nur Jahrgangsunterricht erlebt, zwei nur Eingangsstufe, eins ist in der zweiten Klasse von der Eingangsstufe in Jahrgangsunterricht gewechselt.
Ich habe in allen Klassen hospitiert und kann daher einiges zu den Unterrichtsformen sagen. Vorteile der Eingangsstufe für Zweitklässler kann ich nicht erkennen.
Im direkten Vergleich kann ich sagen, dass Jahrgangskinder in allen Unterrichtsfächern deutlich weiter sind, geübter Stoff besser sitzt, sie sich im Umgang untereinander sozialer verhalten und zufriedener sind, weil mehr altersgleiche Kinder für Freundschaften zur Verfügung stehen. Wenn Eingangsstufenkinder jahrgangsübergreifend enge Freundschaften geschlossen haben, verlieren sie diese nach einem Jahr wieder und müssen sich sozial neu einsortieren. Diese bittere Komponente wird fast nirgendwo benannt, wenn es um die Eingangsstufe geht! Auch müssen sie sich schon früh an neue Lehrer/innen gewöhnen. Sonst gilt in Brandenburg meist 1-3/4-6, die Eingangsstufe hat in der Regel 1+2/3+4/5+6.
Bei Hospitationen stach mir zuallererst ins Auge, dass Eingangsstufenlehrerinnen weitaus mehr Zeit für organisatorische Dinge aufbringen müssen. Die direkte fachliche Instruktionszeit pro Schüler nimmt deutlich ab. Ich habe die Lehrer fast nur dirigierend erlebt, welches Blatt wo geholt, wo einsortiert werden muss, wo welcher Ordner hinkommt, welches Material wo geholt werden muss etc.
Die Eingangsstufe zwingt Lehrer dazu, eher indirekte Lehrmethoden anzuwenden, z.B. Wochenpläne, Werkstattarbeit etc. Dies ist mit einer wahren Kopier- und Laminierorgie verbunden. Insbesondere schwächere Schüler bzw. Schüler, die nicht so gut organisiert sind, leiden hierunter erheblich. Wenn nicht genug Personal zur Verfügung steht, die Schüler in kleinen Gruppen klassenstufenweise zusammenzufassen (was im übrigen ja jeder Art von Unterricht positiv zugute kommt) werden Kinder mehrerer Eingangsstufen partiell jahrgangsweise unterrichtet, d. h. dann müssen ständig mehrere Klassen koordiniert werden, ohne besonderen pädagogische Effekt auf die Schüler. Das bringt viel Unruhe. Spontane Reaktionen auf Unterrichtsthemen - z.B. spontane kleine Ausflüge, habe ich daher in Jahrgangsklassen häufiger erlebt. Der Lärmpegel in Eingangsstufenklassen ist höher.
Jahrgangsweise wird in der Regel so unterrichtet, dass es eine direkte Unterweisung für die ganze Klasse gibt. Dann können alle Kinder anfangen zu arbeiten. Die Lehrerin hat Zeit, sich um die Schwächeren und/oder die Schwierigen in enger direkter Anleitung zu kümmern und kann anschließend Extra-Aufgaben an die Schnellen verteilen. In Eingangsklassen - verbunden mit indirekten Methoden, bei denen jeder nach seinem Tempo arbeitet - erklärt die Lehrerin jedem Kind einzeln alles. Das bedeutet, dass die Gesamtinstruktionszeit pro Kind deutlich reduziert ist und - schlimmer noch - manche Kinder komplett durchs Lehrerraster fallen können. Die Spannbreite - auch innerhalb einer Klassenstufe - wird größer, Lehrer werden eher Wissensverwalter als Wissensvermittler und sie bekommen gleichzeitig eine eigentümliche Diagnostikfunktion zugewiesen.
Es wird mehr LRS, Dyskalkulie, ADHS etc. festgestellt. Diese Auffälligkeiten werden dann im besten Fall gesondert gefördert, oft aber auch nur individuell als scheinbare Pathologie diagnostiziert. Scheinbar sage ich deshalb, weil ich denke, dass die Methodik einen erheblichen Einfluss hat.
Und hier meine eigenen ca.-Zahlen, wobei ich dazu sagen muss, dass in den von mir beschriebenen Klassen die Eltern der Eingangstufe tendentiell höheren Einkommens-/Bildungsschichten entstammten als der Jahrgangsklasse und dagegen in der Jahrgangsklasse mehr früher eingeschulte Kinder waren als in der Eingangsstufe.
Jahrgangsklasse: 1 LRS/25
2 Dykalkulie/25
1 ADHS/25
kein Sitzenbleiben/25
8 LuBK/25
Eingangsstufe: 12 LRS/25
mehr Dyskalkulie/25
mehr Unruhe/25
5 drei Jahre Eingangsstufe/25
1 LuBK/25
LuBK= Leistungs- und Begabungsklasse, die Möglichkeit in Brandenburg, Schüler ab der 5. Klasse auf ein Gymnasium zu schicken, betrifft, wenn ich mich nicht täusche, ca. 20-25% der Fünftklässler Brandenburgs. Der Aufnahme geht eine landeseinheitliche zusätzliche prognostische Untersuchung voraus. Der LuBK-Schüler der ehemaligen Eingangsstufe wurde von seiner Mutter quasi parallel unterrichtet.
Der Eingangsklassenunterricht ist stärker als jede andere Unterrichtsform von der Lehrerpersonality abhängig. Wer also in derart heterogenen Klassen für Ruhe und dauernde Arbeitsatmosphäre und ein gutes soziales Klima sorgen kann, jederzeit mitbekommt, wo ein Kind schwächelt und sofort eingreifen kann, die Kinder motivieren kann, sich jederzeit gegenseitig zu helfen und selbst immer die doppelte Vorbereitungszeit pro Thema in Kauf nimmt, der kann - auch in der zweiten Klasse - gute Ergebnisse schaffen. Ich habe das bisher von Zweitklässlereltern einer einzigen Eingangsstufe gehört und weiß von der betreffenden Lehrerin, dass sie privat überhaupt gar nichts anderes mehr gemacht hat, als Unterricht vorzubereiten. Nur: ein solcher Engel würde wahrscheinlich auch jede Jahrgangsklasse zu Höchstleistungen anstiften.
Die Eingangsstufe macht meiner Meinung nach ausschließlich dort Sinn, wo wegen zu geringer Schülerzahlen Schulen schließen müssten und ansonsten erheblich längere Schulwege in Betracht kämen.
craff