Die Schulaufgabennoten in Englisch führen gelegentlich zu Missstimmung zwischen Eltern und Lehrer. Ein Elternteil kommt in die Sprechstunde, weil das Kind eine 5 oder 6 gekriegt hat, und hat eine berechtigte Frage: “Ist das nicht zu streng?” Für die Eltern sieht die Schulaufgabe nämlich ganz ordentlich aus, und außerdem haben sie vielleicht mitbekommen, wie sehr das Kind auf die Schulaufgabe gelernt hat.
Gelegentlich folgen darauf zwei Bemerkungen. Erstens, es wird erklärt, dass es doch sonst üblich sei, bei 50% der Punkten noch eine 4 zu geben, und wieso man das hier nicht eingehalten habe. [Zweiter Punkt weggelassen.]
Folgendes gilt nur für Gymnasien in Bayern, bei allen anderen Schulen kenne ich mich nicht aus.
Es gibt erstmal für kein Fach und - abgesehen von der Kollegstufe - für keine Jahrgangsstufe irgendwelche Vorgaben und Vorschriften, was den Notenschlüssel betrifft. Das gilt für Mathematik ebenso wie für Englisch. Stattdessen legt jeder Lehrer den Notenschlüssel selbst fest. Das ist dem Kultusministerium sogar so wichtig, dass es in einem Schreiben an die Lehrer betont hat, dass man sich an fest ausgemachte Notenschlüssel nicht halten muss, und seien sie auch von der Fachlehrerkonferenz an der Schule festgelegt.
Denn üblicherweise einigen sich die Fachlehrer (zum Beispiel in Mathematik, Englisch, Französisch) tatsächlich auf einen Richtwert. Das ist aber wirklich nur ein Richtwert. In Englisch gilt in der Unterstufe und im Großteil der Mittelstufe am häufigsten die Faustregel, dass man mit 60% der Punkte gerade noch eine 4 erhält. Das ist aber nur eine Faustregel.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo die Vorstellung herkommt, die Grenze zwischen 4 und 5 müsse bei 50% liegen. Ist das in Mathematik so üblich, oder an anderen Schularten, vielleicht an der Grundschule? Oder war das früher so?
Jetzt zu den Gründen dafür, dass es einen Richtwert gibt, dass man ihn nicht immer einhalten darf, und warum er bei uns bei 60% liegt.
Schulaufgaben sind unterschiedlich schwer. Das liegt am Lehrer, der entweder lieber schwere Schulaufgaben schreibt und sie freundlicher bewertet, oder leichtere, und dafür strenger ist. Das liegt an der Vorbereitung: Manchmal bleibt weniger Zeit, als man will, oder Klassenfahrten kommen dazwischen. Das liegt am Stoff, der ja tatsächlich manchmal schwerer und manchmal leichter ist. Das liegt vor allem auch an der Art der Schulaufgabe: Wenn man nur Wörter in Lücken einsetzen muss, dann hat man weniger Gelegenheit, Fehler zu machen. Wenn man da die Hälfte der Wörter richtig hat, ist das sehr schwach. (Häufig ist das bei Exen so.) Müssen die Schüler dagegen eigene Texte produzieren, machen sie natürlich mehr Fehler. Wenn da die Hälfte der Sätze richtig ist, ist das schon eine viel bessere Leistung.
Man kann es so sehen: Entweder man stellt leichte Aufgaben, dann sind zwei Drittel der Punkte eine schwache Leistung. Was muss man von einem Sekretär halten, der zwei Drittel aller Worte richtig schreibt? Oder von einem, der sogar 90% aller Worte richtig schreibt? Das ist absolut ungenügend. Oder man stellt schwerere Aufgaben, dann kann man auf zwei Drittel der Punkte schon ein bisschen stolzer sein.
Ein strenger Notenschlüssel ist bei leichten Aufgaben also sinnvoll, bei schweren nicht. Wir Lehrer haben uns darauf geeinigt, dass der Schwierigkeitsgrad in der Unterstufe eben so liegen sollte, dass 60% der Punkte eine noch ausreichende Leistung sind.
(Wir hätten auch eine andere Zahl wählen können: Bei 50% wären die Schulaufgaben alle etwas schwerer geworden, bei 70% alle etwas leichter. Der Grund, warum wir uns überhaupt auf eine Zahl geeinigt haben, ist der, dass die Schulaufgaben so vergleichbarer werden und einsichtiger für Eltern und Schüler. So richtig würde das aber wohl nur funktionieren, wenn wir tatsächlich 50% genommen und schwerere Schulaufgaben in Kauf genommen hätten.)
Ist die Schulaufgabe leichter als im Durchschnitt, dann wären 60% noch viel zu gut. Ist sie, aus welchen Gründen auch immer, schwerer als im Durchschnitt geworden, dann wären 60% tatsächlich nicht fair.
Die Frage ist also nicht: “Sind 60% zu streng?”, sondern: “Passen 60% zu den gegebenen Aufgaben?” Und diese Frage ist auch für Lehrer nicht immer leicht zu beantworten. Erfahrung, Vergleich mit anderen Lehrern, das alles hilft ein bisschen. Vor allem hilft der Vergleich innerhalb der Klasse: Wenn zumindest ein Teil der Schüler bei gegebenem Notenschlüssel gute Leistungen erbracht hat, dann war der Notenschlüssel vermutlich passend. Das heißt nicht, dass immer ein Schnitt von 3,50 oder 3,30 herauskommen muss, mit ein paar Einsern und Sechsen, etwas mehr Zweiern und Fünfern, und einem Haufen Dreier und Vierer - aber bei durchschnittlichen Klassen ist das nun mal das zu erwartende Ergebnis.
Allerdings sind nicht alle Klassen durchschnittlich leistungsfähig. Es gibt besonders starke und und besonders schwache Klassen, auch wenn die meisten Klassen im Mittel liegen. Da gibt es tatsächlich die Versuchung, einen Notendurchschnitt um 3,50 oder 3,30 anzupeilen - aus Gewohnheit sozusagen. Man versucht als Lehrer darauf zu achten, dass das nicht geschieht.
Auf jeden Fall schaut sich der Lehrer die Schulaufgaben im Grenzbereich 4/5 und 5/6 noch einmal insgesamt an, und entscheidet, ob die Note 4, 5 oder 6 hier wirklich passt - im Vergleich zu dem, was man erwarten kann. Erwarten kann hinsichtlich der Schwierigkeit der Aufgaben, hinsichtlich Art und Umfang der Vorbereitung in der Schule, und hinsichtlich dessen, welche Leistungen Schüler in dieser Jahrgangsstufe bringen können. Und nur, wenn die Note 4, 5 oder 6 wirklich passt, dann sollte auf der Schulaufgabe eben diese Note stehen. Lehrer geben keine 5, weil die Punkte das so erzwingen, sondern weil die Leistung nun mal in den Augen des Lehrers insgesamt mangelhaft ist.
[…]
Zuletzt ist es natürlich möglich, dass bei einem Lehrer oder einer Schulaufgabe Schwierigkeitsgrad und Punkteskala nicht zusammenpassen. Das ist dann tatsächlich ein Fehler des Lehrers. Wenn gar keine gute Noten dabei sind, oder gar keine schlechten, dann sollte man misstrauisch werden: In diesen Fällen bespricht sich der Lehrer rechtzeitig mit anderen Kollegen, dem Fachrespizienten oder gar der Schulleitung (das ist sogar Vorschrift). Wenn es gute Gründe für diese extremen Ergebnisse gibt, dann sind diese Ergebnisse selbstverständlich zugelassen. Wenn es keine guten Gründe gibt, dann hat der Lehrer tatsächlich etwas falsch gemacht. Dann muss man mit dem Lehrer reden, und wenn das nicht hilft, zur Schulleitung gehen. Das kommt aber sehr selten vor, viel seltener, als Eltern unzufrieden mit einer Schulaufgabe sind.