craff
Hallo,
ich versuche eine Antwort.
Zitat
Dass Erstklässler heute so viel schlechter sein sollen als vor dreißig Jahren deckt sich nicht mit meinen eigenen Erfahrungen.
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Sind Verhaltensauffälligkeiten bei Schuleintritt heutzutage häufiger als früher?
Zu klären wäre natürlich, was „früher“ heißt. Glaubt man Dr. Michael Winterhoff, (Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie für Sozialpsychiatrie), derzeit in den Hit-Listen der Sachliteratur ganz oben zu finden (Michael Winterhoff: Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Gütersloh), dann wäre es tatsächlich so: "Gab es vor 15 oder 20 Jahren etwa zwei bis vier auffällige Kinder pro Schulklasse, so hat sich das Verhältnis heute genau umgedreht [...]: Von etwa 25 Kindern in einer Schulklasse sind heute noch zwei bis vier Kinder komplett unauffällig, alle anderen zeigen, in der Mehrzahl miteinander kombinierte, Störungsbilder." (ebd.) An anderer Stelle heißt es: "In der Konsequenz führt das dazu, dass der Entwicklungsstand eines Kindes bei der Beschulung nicht mehr vergleichbar ist mit dem Status quo, der etwa zu Beginn der 90-Jahre vorherrschte." (ebd.) Winterhoff behauptet allerdings nicht, eine Studie vorzulegen, die wissenschaftlichen Anforderungen entspricht. Was er vorlegt, ist wohl eher ein Erfahrungsbericht aus seiner Praxis. Seine Ausführungen sind jedoch nicht unplausibel. Du hast dennoch auch Recht: Gestörte Kinder gab es schon immer.
· Übermäßiger Konsum jeglicher Art, auch (auch medienbezogen),
· Vernachlässigung oder falsche ’Erziehung’,
· Kindheit heute in veränderten sozialen Strukturen
mögen dazu geführt haben, dass die altbekannten Störungsmuster gravierendere Erscheinungsformen angenommen haben und neue hinzugekommen sind, wir als LehrerInnen könnten zudem eine neue Sensibilität für diese Problematik entwickelt haben. Dümmer geworden sind unsere Kinder aber wohl offenbar tatsächlich nicht. Eine Studie belegt: Die sprachfreie Intelligenz ist seit 1977 von 100 auf 111 IQ-Punkte angewachsen.
Du fragst: „Wenn sie (Anmerkung: die Störungen) häufiger sind, in welchem Lebensalter stellen sie sich ein?“ Studien dazu gibt es meines Wissens nicht, zum zweiten Teil der Frage finde ich nur die – m. E. plausible – Antwort: schon bald nach der Geburt.
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Meine Annahme ist vielmehr, dass einige der neueren Methoden Ursache der Störungen ist, deren Lösungen zu sein sie vorgeben.
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Allerdings scheinen manche Methoden mit ihrem Mix aus Überforderung und Unterbeschäftigung Verhaltensauffälligkeiten vielleicht eher zu verstärken als früher.
Dass „neuere Methoden“ die Ursachen für viele der Störungen sind, ist m. E. weniger anzunehmen. Ich bin aber ganz Deiner Ansicht, dass „neuere Methoden“ zur Lösung der Probleme nichts beitragen, vielmehr bin ich davon überzeugt, dass wir das Gegenteil annehmen müssen. Mein Vorwurf gegen viele der neueren Methoden (insbesondere des Schriftspracherwerbs) ist, dass zwar sehr viel von ’Individualisierung’ die Rede ist, sie jedoch geradezu vereiteln, dass etliche der speziellen Störungen/Probleme rechtzeitig wahrgenommen können. Dass sich mit ihrer Hilfe vorhandene Defizite beheben ließen, ist nicht erkennbar. Ich denke an Störungen in den Sprachwahrnehmungsleistungen (bei der phonematisch-akustischen Differenzierungsfähigkeit, der kinästhetisch-artikulatorischen Differenzierungsfähigkeit, der melodisch-intonatorischen Differenzierungsfähigkeit, der rhythmisch-strukturierenden Differenzierungsfähigkeit) wie auch an Störungen in den in den lautsprachlichen Grundfertigkeiten (bei der Artikulationssicherheit, dem Umfang/der Qualität des Wortschatzes, dem Sprachgedächtnis, dem Sprachverstehen, der mündlichen Kommunikationsfähigkeit). Gewisse Verfechter der Methode 'Lesen durch Schreiben' versuchen sich seit Jahren in inzwischen unzähligen Veröffentlichungen gegen diese Problematik zu immunisieren, indem sie ohne jegliche seriöse Begründung, erst recht nicht aufgrund wissenschaftlicher empirischer Untersuchungen, vom ersten Schuljahr an die Kinder in lernstarke, schnell lernende und langsam lernende Kinder einteilen und damit die Frage der Defizite in den Sprachwahrnehmungsleistungen und lautsprachlichen Grundfertigkeiten bei immerhin hierzulande derzeit weit über 100.000 neu eingeschulten Kindern mit Schwierigkeiten/Störungen schlichtweg ignorieren. Mit einfach nur langsamem Abarbeiten von Kärtchen lassen sich die oben genannten Defizite nicht – wie von selbst – beheben. Das alles ist natürlich nicht Individualisierung, zumal Üben mit immer wieder denselben Materialen für alle stattfindet! Diese Art des Fortschreitens, für die einen langsamer, für andere schneller, hätte man – allerdings weniger aufwändig - schon in den vergangenen Jahrzehnten auch mit den schwächsten Fibeln arrangieren können. Ich halte es daher auch für wenig überlegt , wenn man Kolleginnen, die mit einer Fibel arbeiten, ’gleichschrittiges Arbeiten mit allen’ vorhält. Außerdem: moderne Fibeln sind heute in der Regel pfiffiger angelegt und bieten eine Vielzahl von Differenzierungsmöglichkeiten. Kompetente Lehrerinnen werden sich jedoch darüber hinaus in mancher Situation sehen, in der auch das noch nicht ausreicht und sie bei besonderen Schwierigkeiten spezielle Arbeitsmaterial selbst entwickeln müssen.
Mich erstaunt immer wieder, dass der theoretische Ansatz aller Methoden mit dem Konzept „Lesen durch Schreiben“ so wenig hinterfragt wird. Bei J. Reichen finden wir (http://www.heinevetter-verlag.de/05/leitsaetze.htm
“Der Schriftspracherwerb ist genetisch bedingt.“
So kann es aber wohl eben nicht sein. Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken, die erst erlernt werden können, seitdem es die Schrift gibt, und die gibt es erst seit etwa fünf- bis sechstausend Jahren. Während sich über einen langen Zeitraum hinweg im menschlichen Hirn bestimmte Dispositionen zum Erlernen des Sprechens herausbilden konnten, war dies für das Erlernen des Schreibens und Lesens in der kurzen Zeit von nur wenigen tausend Jahren natürlich nicht möglich. Es gab auch keinen Evolutionsdruck, der auf die Entwicklung der Fähigkeiten zu lesen oder zu schreiben im Hirn hingewirkt hätte. Der den meisten Lehrerinnen bekannte Hirnforscher Prof. Manfred Spitzer (in seinem Buch ’Lernen’): „Unser Gehirn ist für das Lesen nicht gebaut. Es entstand lange vor der Erfindung der Schrift und aufgrund von Lebensbedingungen, die mit den heutigen wenig gemeinsam haben. Eines zeichnete diese Lebensbedingungen ganz gewiss nicht aus: Schrift auf Schritt und Tritt. Wer liest, der missbraucht also zunächst einmal seinen Wahrnehmungsapparat für eine nicht artgerechte Tätigkeit, etwa wie ein Fliesenleger seine Knie missbraucht, um in Bädern herumzukriechen oder wie ein Tennisspieler, der seinem Ellenbogen das Aufnehmen von mehr Kräften zumutet, als dieser verkraften kann. Noch einmal anders ausgedrückt: Das Gehirn verhält sich zum Lesen wie ein Traktor zum Formel -1-Rennen, für dessen Tuning man kurz vor dem Rennen zwei Stunden Zeit bekommt.“ Dass nach tausenden Stunden des Übens Menschen tatsächlich lesen können, ist für Spitzer ein wichtiger Beweis: Das menschliche Hirn "kann Tätigkeiten lernen, die ihm nicht in die Wiege gelegt sind." Und was für das Lesen gilt, gilt natürlich auch für die Kulturtechnik des Schreibens.
Aus dem falschen Ansatz heraus konnten sich über Jahre hinweg Werbesprüche wie der für die Methode ’Tinto’ des Cornelsen-Verlags halten: „Grundlage der Materialien in der Lehrwerksreihe ist die Idee, dass Kinder sich den Weg in die Schriftsprache weitgehend selbstständig erarbeiten können.“
Die Münsteraner Professorin Hanke rechtfertigt den Einsatz moderner Methoden (dazu gehört bei ihr auch ‚’Lesen durch Schreiben’) damit, „dass der pädagogisch-didaktische Ansatz der ’Öffnung des Unterrichts’ sich als ein Konstrukt aus theoriegeleiteter Perspektive als plausibel und für die Realisierung des Bildungsauftrags der Grundschule als brauchbar erweist.“ Wir hätten Katastrophen ohne Ende, wenn auch Chirurgen nach solchen Maximen arbeiten dürften.
Ich komme noch einmal zurück auf die letztgenannten Zitate aus Deinem Beitrag:
Es ist inzwischen hinreichend erwiesen, dass „neuere Methoden“ in größerem Umfang methodenverursachte LR-Schwierigkeiten auslösen können (und auch so wirken), wie auch bekannt ist, dass schwächere SchülerinInnen damit überfordert sind.
Schönes Wochenende!
Heloise
(die ein arbeitsreiches Wochenende vor sich hat)