Ich bin an sich pro Impfen und bin auch selbst geimpft und geboostert. Trotzdem bin ich der Meinung, dass solche Gefühle tatsächlich respektiert werden müssen, auch wenn sie vielleicht nicht auf einer rationalen Grundlage beruhen.
Unser Weltbild beruht nicht (nur) auf objektiven Fakten, sondern (auch) auf Narrativen aus unserer Gesellschaften, unseren Familien, beruflichen und privaten Umfeldern. Das ist nicht nur bei einzelnen Menschen so, sondern das gehört zum Menschen. Dasselbe gilt für das Treffen von Entscheidungen: Wir treffen Entscheidungen nicht (nur) auf der Basis von objektiven Fakten, sondern es wirken verschiedene Mechanismen mit, meistens unbewusst. Wer dazu etwas lesen möchte: Schnelles Denken, langsames Denken von Daniel Kahnemann (kann ich empfehlen, ist aber langatmig) und Factfulness von Hans Rosling (habe ich selbst noch nicht gelesen).
Ich erinnere mich z. B. an die griechische Wirtschaftskrise vor zehn Jahren, als plötzlich jeder zweite Kollege, Passant oder Mitbewohner eine Meinung hatte, ob man Griechenland unterstützen solle oder nicht. Die hatten nicht alle Volkswirtschaft studiert. Dasselbe Phänomen gibt es alle paar Jahre bei der Fußball-WM, wenn alle Welt meint, es besser zu wissen als Jogi Löw und bald Hansi Flick. Und eben jetzt bei Corona. Ich habe mehrere Uni-Abschlüsse, aber Virologie, Epidemiologie oder Statistik sind nicht dabei. Natürlich mache ich mir eigene Gedanken, aber mir ist völlig bewusst, dass ich vor allem Narrativen folge. In meinem Fall sind es eher die, die entscheidend von Karl Lauterbach, Mai Thi Nguyen-Kim und anderen geprägt werden. Bei anderen sind es die Narrative, die von Wolfgang Wodarg, Sucharit Bhakdi und co. geprägt werden.
M. E. ist auch der Glaube an einen Schöpfergott völlig irrational, aber dennoch respektiere ich diesen Glauben und die glaubenden Menschen. Ich bin überzeugt, dass wir mit Menschen wie deiner Verwandten und mit deren Gefühlen genauso respektvoll umgehen und sie letztlich auch akzeptieren müssen. Wenn wir das nicht tun, sehe ich schwarz für das gesellschaftliche miteinander, im Sinne von Steinmeier: „Wir wollen auch nach der Pandemie noch miteinander leben.“