SPIEGEL: Herr Professor Pohl, eine ganze Generation von Kleinkindern macht ihre ersten Lebenserfahrungen in einer Welt, die gebeutelt ist vom Coronavirus. Wird das diese Kinder prägen? Oder werden sie sich in fünf Jahren ohnehin kaum noch an die Pandemie erinnern?
Pohl: Wahrscheinlich beides. Zwar sorgt die sogenannte frühkindliche Amnesie dafür, dass im frühen Grundschulalter die Erinnerungen an die ersten drei Lebensjahre weitgehend verloren gehen. Das heißt aber nur, dass man sich nicht mehr explizit an diese Zeit erinnern kann – und bedeutet keineswegs, dass Erfahrungen dieser Jahre nicht nachwirken. Im Gegenteil.
SPIEGEL: Bitte erklären Sie.
Pohl: Schauen Sie, was wir in den ersten drei Lebensjahren erleben, prägt uns fundamental. Die Erfahrungen dieser Zeit bestimmen, was wir als Normalität definieren. Wir lernen unveränderliche Wahrheiten kennen, die routinemäßig funktionieren: Wenn ich weine, kommt Mama; Papa bringt mich in die Kita; meine Eltern füttern mich am Essenstisch. Solche Sachen.
SPIEGEL: Und was bedeutet das in Bezug auf Corona?
Pohl: Dass die Pandemie mit all ihren Begleiterscheinungen für Zweijährige die Normalität ist. Ein sechsjähriges Kind hat schon die pandemiefreie Welt kennengelernt und kann diese Erfahrung mit der derzeitigen Lage kontrastieren. Es versteht also, dass wir uns in einer Ausnahmesituation befinden. Bei Zweijährigen ist das anders. Menschen mit Masken, leer gefegte Straßen, Eltern im Homeoffice, wenig soziale Kontakte – für Zweijährige alles normal.
SPIEGEL: Das heißt, wenn die Pandemie überwunden ist und unsere alte Lebensweise zurückkehrt, werden diese Kinder sie als unnormal wahrnehmen?
Pohl: Wahrscheinlich schon. Zumindest für die Übergangszeit prognostiziere ich Probleme. Kinder werden irritiert sein, wenn die Menschen auf einmal wieder zusammenkommen, sich berühren, umarmen. Das kennen sie so nicht, das wurde lange bewusst vermieden.
Quelle: Spiegel - Entwicklungspsychologe über Kleinkinder in der Pandemie