Nicht ganz zu deiner Frage, aber trotzdem ein interessanter Text:
Bertolt Brecht (1889-1956)
Über das Zerpflücken von Gedichten (1938)
Der Laie hat für gewöhnlich, soferner ein Liebhaber von Gedichten ist, einen lebhaften Widerwillen gegen das, wasman das Zerpflücken von Gedichten nennt, ein Heranführen kalter Logik,Herausreißen von Wörtern und Bildern aus diesen zarten blütenhaften Gebilden.
Demgegenüber muß gesagt werden, daßnicht einmal Blumen verwelken, wenn man in sie hineinsticht. Gedichte sind,wenn sie überhaupt lebensfähig sind, ganz besonders lebensfähig und können dieeingreifendsten Operationen überstehen. Ein schlechter Vers zerstört einGedicht noch keineswegs ganz und gar, so wie ein guter es noch nicht rettet.Das Herausspüren schlechter Verse ist die Kehrseite einer Fähigkeit, ohne dievon wirklicher Genußfähigkeit an Gedichten überhaupt nicht gesprochen werdenkann, nämlich der Fähigkeit, gute Verse herauszuspüren.
Ein Gedicht verschlingt manchmal sehrwenig Arbeit und verträgt manchmal sehr viel. Der Laie vergißt, wenn erGedichte für unnahbar hält, daß der Lyriker zwar mit ihm jene leichtenStimmungen, die er haben kann, teilen mag, daß aber ihre Formulierung in einemGedicht ein Arbeitsvorgang ist und das Gedicht eben etwas zum Verweilengebrachtes Flüchtiges ist, also etwas verhältnismäßig Massives, Materielles.Wer das Gedicht für unnahbar hält, kommt ihm wirklich nicht nahe. In derAnwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses. Zerpflücke eine Roseund jedes Blatt ist schön.
aus: Bertolt Brecht, Schriften zur Literatur und Kunst, WerkausgabeSuhrkamp, Bd. 19, 1967, S. 392 f.