Konkret heißt das dann, dass die Zeugnisnote der meisten Schüler in Deutschland zu 50 bis 100% aus dem "Bauchgefühl" des Lehrers entsteht?
Auf einer Skala von sechs bzw. fünf Noten ist die Bewertung eines Schülers wirklich kein Hexenwerk. Unsere 8er haben bspw. mindestens 50 Unterrichtsstunden Physik im Schuljahr/25 Stunden im Halbjahr. Selbst, wenn ich da bei 25 Schülern, jeweils 5 Kriterien mindestens dreimal pro Schüler und Halbjahr erheben wollen würde, also 375 Einzelwerte bestimmen wollen würde, wären das pro Unterrichtsstunde nur 15 Werte, die in der Regel innerhalb weniger Sekunden erhoben sind. Bei Fächern wie Englisch, in denen ich die 8er mindestens doppelt so lange sehe, ist das noch viel weniger ein Problem.
So mathematisch heranzugehen ergibt aber auf Dauer keinen Sinn. Am Anfang ist es vielleicht wirklich hilfreich, so formal heranzugehen, um sich selbst entsprechende Erfahrung anzuschaffen bzw. sich zu vergewissern, dass die Bewertung aus dem Bauchgefühl eben nicht aus der Luft gegriffen ist. Aber irgendwann kennt man den Unterschied zwischen einer 1er und einer 2er Leistung, ohne das so formal notieren zu müssen. Diese Bewertung könnte man (ich) dann auch auf Nachfrage begründen, ohne eine ausgearbeitete und für alle Schüler ausgefüllte Bewertungsmatrix vorzuhalten.
Das ist bspw. im Sport auch nicht anders. Am Anfang konzentriert man sich auf die konkrete Ausführung einer Technik oder Übung, aber irgendwann ist die dann so selbstverständlich, dass man nicht mehr Schritt für Schritt arbeiten muss, sondern einfach macht und das in den meisten Fällen auch richtig. Die Autoanalogie ist auch gut. Am Anfang muss man noch auf alles explizit achten, sich genau überlegen, was man wann machen muss, aber mit der Erfahrung macht man irgendwann einfach. Über das Autofahren ansich muss ich mittlerweile gar nicht mehr nachdenken, bei einem neuen Auto mache ich alle Handgriffe zur Einstellung aus dem ff ohne darüber wirklich nachdenken zu müssen und auch die Übersicht beim Fahren ist viel besser, weil bspw. Straßenschilder nicht mehr explizit wahrgenommen werden müssen, sondern das ohne nachzudenken einfach im Hirn verknüpft ist.
Die Frage ist aber doch, ob diese Fehler tatsächlich größer sind als bei der Beurteilung der Mitarbeit durch Beobachtung von 25 Schülern neben dem eigentlichen Unterricht, in dem man ja in pädagogischer Verantwortung andere Dinge tun sollte (unterstützen), als den Lernprozess seiner Schüler zu bewerten-
Diese Aussage verstehe ich nicht. Beim Erarbeiten bspw. im Lehrergespräch, kann ich doch super feststellen, dass Schüler A, C und D in Fragen/Antworten Fachvokabular richtig verwenden und Schüler K bereits sehr gute Fragen stellt/Antworten gibt, die zeigen, dass er den Stoff durchdrungen hat.
Schon habe ich bewertbare Leistungen. Dass Schüler F und J Fragen stellen, die nahelegen, dass sie die Aufgabenstellung nich gelesen haben, kann ich auch feststellen. Ebenso kann ich feststellen, ob an bestimmten Stellen noch nachgearbeitet werden muss, weil außer den drei Schülern, die so oder so immer alles sofort verstehen, noch niemand so richtig zurechtkommt (was ich Schülern auch in der Regel nicht negativ auslege). Dass jemand von sich aus nichts sagt, ist nicht negativ. Es ist auch nicht negativ, Fragen zu stellen/Dinge zu sagen, wenn man als Schüler etwas noch nicht ganz verstanden hat.
ZitatWie sich ein vertrauensvolles Lehrer-Schüler-Verhältnis aufbauen kann, wenn die eine Seite weiß, dass ihre Äußerungen laufend bewertet werden, ist nochmal eine ganz andere Frage...
Wieso bewertest du Äußerungen laufend? Das ist weder erforderlich noch sinnvoll. Unterricht ist keine andauernde Prüfungssituation. Ich will dir nicht zu nahe treten, aber besonders lange machst du den Job noch nicht (wenn überhaupt), nicht wahr.
ZitatIch hatte mal eine Diskussion zum Thema mit jemandem aus dem Ausland, der erst eine Zeit benötigte, um zu verstehen, was da in D überhaupt passiert und dann recht erschrocken war und meinte, dass das ja das Lehrer-Schüler-Verhältnis ruinieren müsste, er würde sich dann ja kaum trauen, eine ggf. blöde Frage zu stellen...
Das ist eine unzutreffende Einschätzung.
ZitatUnd - bitte ehrlich: Wer macht tatsächlich eine Matrix mit den vielleicht fünf Kriterien für alle 25 Schüler, also 125 Kriterien pro Klasse und meint, er sei in der Lage, diese mindestens einigermaßen korrekt auszufüllen? Und dann eine (ggf. gewichtetes) Mittel der Einzelleistungen anhand dieser Kriterien??
Kommt auf die Matrix an, aber ich kann meine Noten immer begründen, obwohl ich "aus dem Bauch heraus" bewerte. Aus dem Bauch heraus heißt ja nicht, dass man sich am Halbjahresende hinsetzt und dann erst anfängt, darüber nachzudenken, wie man einzelne Schüler denn über das Schuljahr hinwrg bewertet haben könnte.
ZitatUnd damit eben doch "Bauchgefühl", auch wenn alle von sich überzeugt sind, dass sie es natürlich kriteriengeleitet machen.
Und diese Erkenntnis ist auf der ganzen Welt tatsächlich nur den deutschen Behördenvertretern (die diese Regeln ja vermutlich irgendwann einmal gemacht haben) gekommen?
Ich bin auch kein Fan von mündlichen Noten, sehe aber auch nicht das große Problem in der Nachvollziehbarkeit der Bewertung ansich.