Vielleicht kann ich auch noch etwas zum Thema beitragen oder interessante Fälle schildern in Sachen Inklusion.
Ich arbeite seit vier Jahren bei uns an einer Schule für Hörgeschädigte (wir haben auch einen Schulzweig für Sehbehinderte, aber mit denen habe ich in Sachen Unterricht nichts bis wenig zu tun) und seit diesem Schuljahr bin ich auch in der Ambulanz. Ich habe wie meine Kollegen etwa ein dutzend Fälle an allen möglichen Schulen - das kann wirklich alles sein, je nachdem wo die halt sind. Wir decken einen ganzen Regierungsbezirk ab und so bekommt man natürlich unweigerlich mit, was so überall anders los ist. Ich habe ein Deputat von 10 Stunden dafür, um zu beraten, aufzuklären, zu hospitieren, zu dokumentieren und alles, was eben so im Rahmen von Inklusion anfällt. Einen Tag in der Woche habe ich "frei", damit ich mir Termine zu Hospitationen, Sensibilisierungsstunden in Klassen, Gesprächen etc. machen kann. Mein Bereich (fast ein ganzer Landkreis!) ist eine Stunde Fahrtzeit weit weg. Andere Gespräche laufen über Telefon, Mail oder Nachmittagstermine an meinen anderen Tagen, wo keine Konferenz ist oder ich keinen Nachmittagsunterricht habe. Schließlich habe ich auch noch meine eigene Klasse (7 SuS) und unterrichte Hörgeschädigtenkunde bei uns an der Schule.
Meine Kollegen und ich erleben wirklich alles erdenkliche und ich zähle mal ein paar auf.
Positives:
+ Mädchen am Gymnasium in einer kleinen Klasse von 15 Schülern. Das Team, das die Hauptfächer abdeckt, und die Schulleitung tun sehr viel dafür, dass sie gut mitkommt. Wirklich rührend und alle sind glücklich. An der Schule (fünfzüigig) sind alle Klassen recht klein. Ich weiß zwar nicht, wie die das hinbekommen, aber es scheint dort allgemein gut zu laufen.
+ Junge, hochgradig schwerhörig, in der 1. Klasse. Die Klassenlehrerin ist recht abwehrend gegenüber allem, was ich so an Empfehlungen anschleppe. Die anderen beiden im Team sind recht offen und setzen vermutlich die wichtigsten Sachen um. So etwas wie eine Lärmampel und strenger auf Gesprächsdisziplin zu achten, bringt ja eigentlich allen etwas. In der Klasse ist ein verhaltensauffälliger Schüler mit Assistenz, der schon einiges an Radau macht. Sie haben aber einen Nebenraum, wo man dann doch in Ruhe arbeiten kann, so dass es noch irgendwie geht. Die Assistenz kümmert sich auch um die anderen Schüler, so dass sie wirklich eine Bereicherung darstellt.
+ Von meinen Kollegen aus dem Sehbehindertenbereich: zwei blinde Schüler sind an Regelschulen (einmal Grundschule, einmal Gym). Beide sind jeweils zwei Tage an der Schule und haben eine Assistenz. Vor allem vom Grundschulkind weiß ich etwas mehr: Die Klassenlehrerin ist sehr bemüht, die Klasse ist klein, die Assistenz hat sich auch eingearbeitet (in ihrer Freizeit wohlgemerkt!), die Eltern sind auch auf Zack und so sind alle glücklich mit der Situation. Für sie ist es so dort definitiv besser als bei uns an der Schule, die weit weg ist.
+ viele Fälle, wo es ganz gut hinhaut, weil zumindest eine der wichtigen Säulen (Elternhaus, Bedingungen in der Klasse) stimmt.
Jetzt kommen die zahlreichen Abers und vielen fragwürdige Fälle:
- Mit Gymnasien haben wir manchmal zu kämpfen, vor allem, wenn die Gegend eher konservativ geprägt ist. Da kommen Schüler zu uns an Schule, die meines Erachtens völlig normal sind und durch ihr Arbeits- und Sozialverhalten bestechen, denen auch keine richtige Chance gegeben wurde. Es ist teilweise erschütternd, wie sie von Lehrern (!) erniedrigt wurden, weil sie einseitig taub sind, technische Hilfe benötigen, wegen der Schwerhörigkeit teilweise etwas anders sprechen oder eben keine Höraufgaben im Sinne des Nachteilsausgleichs bekommen sollen.
- Ein Schüler ist an einer Mittelpunktsschule in der 8. Klasse. Die Schüler sind in H/R-Kurse eingeteilt, weswegen die Klassenlehrerin den Jungen nur zwei Stunden in der Woche sieht. Das ist doch auch für die große Masse an Schülern Bockmist. Das Mikrofon wird nie benutzt, weil der Schüler es nie mit hat. Das Elternhaus interessiert es nicht und man hört immer nur Ausflüchte, warum es gerade jetzt nicht geht.
- 2. Klasse, Junge ist gehörlos, trägt aber zwei Cochlea-Implantate (CI). Als ich zu Besuch war, waren die Batterien auf einer Seite leer und keine Ersatzbatterien dabei. Die Mutter hat noch nie jemand gesehen und auch ich habe sie noch nie ans Telefon bekommen. Die Vertretungslehrerin ist zugänglich und versucht umzusetzen, was sie so kann. Die eigentliche Klassenlehrerin war länger krank, kommt aber bald wieder und kümmerte sich um fast nichts (ein Mikrofon im Unterricht um den Hals hängen zu haben ist ja wirklich nicht zu viel verlangt!). Das ganze Kollegium sieht, dass sie das absichtlich vor die Wand fahren lässt und zerreißt sich das Maul über sie. Auch die Schulleitung weiß das und lässt sie gewähren.
- Mittelschule. In der 7. Klasse sind LH/H/R vertreten. Klassenleitung und gleichzeitig Konkrektor ist wirklich bemüht, dass es klappt, aber in der Klasse ist er nicht das einzige Sorgenkind. Trotzdem ist der Schüler sozial isoliert und verfällt in störendes Verhalten, weil es eben auf keiner Front gut für ihn läuft. Ich hoffe, ich kann die Eltern überreden, dass er zu uns an die Schule kommt. Als ich das erste mal da war und nach der Hospitation mit ihm geredet habe, standen ihm die Tränen in den Augen und man merkte ihm seine Hilflosigkeit deutlich an. Als ich bei ihnen zu Hause war, um mit den Eltern zu reden und mir mal einen Überblick zu verschaffen, war er ein recht normaler umgänglicher Teenager.
Ich könnte diese Negativliste gefühlt unendlich fortsetzen. In meiner letzten Klasse waren 6 von 7 vorher an einer Regelschule gewesen und vor allem am Anfang der 5. Klasse haben sie sich regelmäßig das Herz ausgeschüttet, wie es ihnen an der Grundschule erging.
In allen Fällen kristallisieren sich ein paar Sachen heraus, die für das Gelingen notwendig sind:
- Die Lehrer müssen bereit sein (das sind sie meistens) und auch genug Kapazitäten haben, dass sie sich dem widmen können.
- Ist die Klasse zu groß oder mit weiteren Problemfällen überfrachtet, wird man der Lage auch oft nicht Herr.
- Das Elternhaus ist eigentlich das wichtigste an der Sache. Die müssen sich letztendlich hinter alles klemmen. Das beginnt mit Streitigkeiten mit der Krankenkasse wegen der Technik, über den Schulträger (schallsanierter Raum), gute medizinische Versorgung und eben auch mit dem Kind das nachzuarbeiten, was im Unterricht nicht geschafft wurde. Das lässt sich auch bei besten Bedingungen einfach nicht komplett vermeiden.
- Der Schüler sollte nicht zu den ganz schüchternen und zurückhaltenden gehören, denn auch er muss sich darum kümmern, dass er etwas mitbekommt. Dafür braucht man halt ein wenig Biss. Generell wird an einem Kommunikationsverhalten in der Regelschule gar nicht gearbeitet und man schlägt sich irgendwie durch. Bei uns an der Schule wird da viel mehr Wert drauf gelegt, sogar in Form eines Extrafaches Hörgeschädigtenkunde.
Da das Elternhaus echt entscheidend ist, merkt man natürlich eine soziale Schere. Das ist es, was ich den ganzen radikalen Inklusionsbefürwortern am meisten vorwerfe. Inklusion tritt an als großes emanzipatorisches Vorhaben, erreicht aber das genaue Gegenteil. Viele gut aufgestellte Eltern entscheiden sich dann nach einer gewissen Phase des Scheiterns oder großer Probleme für unsere Schule trotz der teilweise immens langen Fahrtwege mit dem Bus. Eltern, die sich für ihre Kinder nicht sonderlich interessieren, lassen die dann auch auf der Regelschule versauern und es fährt gegen die Wand. Wären sie bei uns, müssten sie sich um weniger kümmern, weil wir das als Fachleute viel mehr im Blick haben. Wie oft habe ich es schon mitbekommen, dass Schüler eine Probebeschulung bei uns machen und dann schon nach einem Tag sagen, dass sie bei uns bleiben wollen, weil es ihnen so gut gefällt.
Uns wurden ja sinkende Schülerzahlen prognostiziert, was sich aber überhaupt nicht bewahrheit. Es gab mal einen kleinen Knick und vor allem im Grundschulbereich waren die Zahlen stark zurückgegangen, wo auch schon mal eine Klasse 1/2 eingerichtet werden musste, weil es nicht genug für zwei getrennte Klassen gab. Dieses Jahr haben wir so viele Schüler wie noch nie bei uns eingeschult. Darunter sind einige als Quereinsteiger dabei und zwei, wenn auch kleine, erste Klassen. Es scheint sich wohl schon bei Eltern rumgesprochen zu haben, dass es mit der Inklusion nicht so toll läuft und man entscheidet sich direkt für uns. Da bin ich ganz beruhigt, dass Hessen nicht Inklusion mit der Brechstange betreibt wie NRW, Bremen, Hamburg oder Berlin. Ich habe mein Ref in NRW gemacht und es war ein reiner Alptraum dort.