Ich habe mich nach der Korrektur der diessemestrigen LK-Klausuren im Fach Geschichte wieder mal in meiner Erfahrung bestätigt gewesen: ein ganz wesentlicher Teil der Prüfungsstrategie in der schriftlichen Geschichtsprüfung ist, dass man als Kandidat die richtigen Stichworte in Aufgabenstellung und Quelle bzw. Darstellung erkennt, um große Mengen historisches Wissen aufs Papier zu kotzen, um gemäß Erwartungshorizont eine Maximalpunktzahl zu erreichen. Zu knappe Darstellungen, bzw. Darstellungen, die zu wenig Fachbegriffe und historische Daten enthalten, werden bestraft.
Bei kritischer Selbstprüfung und als promovierter Historiker muss ich für mich sagen, dass es mir aus dem Stegreif nicht unbedingt gelingen würde, bei einer strengen Anwendung des Erwartungshorizontes 15 Punkte zu erreichen; ich wüsste ganz bestimmt sehr viel mehr über die gefragten Inhalte zu erzählen, als in einer Abiturklausur erwartbar wäre. Aber die Erwartungshorizonte sind eher darauf angelegt, eine breite Menge von Daten, Fachbegriffen und Einzelfakten zu erfassen, als eine tiefergehende Diskussion zu fordern. Das ist ja auch klar - bei letzterem wäre ein zentraler Erwartungshorizont schließlich gar nicht möglich. Ob das vom Bildungsanspruch her sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt, aber darum geht es ja auch nicht.
Ich müsste mich bei der Bandbreite der Semesterinhalte als Vorbereitung auf eine Abiturklausur also durchaus mal ein oder zwei Tage hinsetzen und die wesentlich Zahlen, Daten, Fakten memorieren, denn alle möglichen Daten zu allen Inhaltsfeldern der obligatorischen Lerninhalte habe ich auch nicht so im Kopf. *) Und das bringt mich wieder zum Punkt des Auswendiglernens im Unterricht. Die Lerner haben den berechtigten Anspruch, ein möglichst erfolgreiches Abitur hinzulegen und als Lehrer habe ich die Aufgabe, ihnen die dazu nötigen Fähigkeiten zu vermitteln. Im Geschichtsabitur ist es notwendig, memoriertes Wissen in großer Menge auf das Papier zu kotzen. Also ist die Sache klar: im Geschichtsunterricht der Qualifikationsphase muss von Anfang an auswendig gelernt und reproduziert werden. Deshalb passe ich meinen Unterricht auch neben den Bildungszielen den prüfungsstrategischen Zielen im Hinblick auf das Abitur an. Wie sollte ich sonst meinen Unterricht vor meinen Lernern rechtfertigen?
Was die Bildungsziele angeht, habe ich bei der Frage, wie wichtig das Wissen im Kopp ist, eine durchaus differenzierte Meinung. Einerseits hat die Analyse- und Urteilsfähigkeit den höchsten Stellenwert. Jahreszahlen auswendig zu können, hilft als anekdotisches Wissen nur bei "wer wird Millionär". Und wer will sich den Quatsch schon antun. Andererseits ist aus fachwissenschaftlichen Gründen eine historische Aussage nur unter verlässlicher Berücksichtigung und Wichtung des Faktenhorizonts möglich. Es reicht nicht aus, dass "man das alles nachschlagen kann", denn wenn man das Netzwerk von Bezügen und Faktoren nicht schon im Kopf hat, weiß man ja gar nicht, welche Sachgebiete man recherchieren und nachlesen muss. Man tappt im Dunkeln und jede Aussage wird zur Spekulation.
Und das ist in der Geschichtswissenschaft nicht hinnehmbar, denn die Geschichtswissenschaft ist die strengste aller Geisteswissenschaften! Frei spekulieren darf man woanders, z.B. bei Literaturanalysen, sofern man den notwendigen Regeln folgt. Die wiederum sind eine Sache der Kompetenzen.
Meine Antwort auf die Frage nach dem Auswendiglernen im Geschichtsunterricht: ja, unverzichtbar!
*) Als Referendar vor 16 Jahren war ich mal im Ausbildungsunterricht bei einem Geschichtslehrer der ganz alten Schule. Der hat bei jeder neuen Klasse die Wette abgeschlossen, dass sie ihm ein beliebiges Jahresdatum von Tag und Monat nennen sollten und er hat ein historisches Ereigniss dazu parat. Die Wette hat er immer gewonnen. Ich kann das nicht. Aber ich glaube, dass ich nicht weniger über Geschichte weiß als dieser schon längst pensionierte Kollege.