Ich hatte einen Mathematik- und Sozialkundelehrer den ich in der Sekundarstufe I sehr gut fand. Er war vom Lehrertyp her "streng aber väterlich" und das, was ihn meiner Meinung nach als Lehrer auszeichnete, war seine absolute Konsequenz und Vorhersehbarkeit. Man konnte sich als Jugendlicher jederzeit an ihm abarbeiten, das hat er immer ausgehalten ohne jemals persönlich berührt zu werden. Gleichzeitig hat es immer die klare Reaktion gegeben, auch positiv, im Zweifelsfall. Das hat mir als Jugendlicher imponiert. Ich erinnere mich an diese eine Szene: ein Mitschüler hat sich mit ihm eine Händedrückduell gegeben - wer wird Schmerzen zeigen? Der Lehrer war ein großer, starker Mann. Aber trotzdem hat der Mitschüler keine Schwäche und keine Schmerzen gezeigt. Der Lehrer hat das offen und laut anerkannt und die Kraft und Schmerzunempfindlichkeit des Mitschülers gelobt. Heutzuge würde man das vieleicht gendermäßig als "Machokultur" verwerfen und kritisieren. Wir fanden das damals, sowohl die Jungs als auch die Mädchen, lobenswert. Ein Schüler hat den Lehrer herausgefordert und wurde nicht erniedrigt sondern bestätigt!
In Sozialkunde hatten wir ein Lehrbuch und kontinuierliche Hausaufgabe war, das jeweils nächste Kapitel zu Hause so vorzubereiten, dass man ein Kurzreferat darüber halten konnte. Das wurde dann unweigerlich jedes einzelne mal in der nächsten Unterrichtsstunde zufällig durchgeführt und benotet abgefragt. Als heutiger Lehrer habe ich meine Zweifel an der didaktischen Wirkung - was ich aber in meiner Schülererinnerung sehe, ist, das wir das wir das damals als fair empfunden haben. Du hast dich nicht vorbereitet und du erhältst eine schlechte Note? Dann ist das eben so - niemand hat was zu meckern. Die Konsequenz ging so weit, dass ich einmal in einer Mathematikklausur ungerechtfertigt Punkte für eine falsch gelöste Aufgabe erhalten habe, die er dann wieder inklusive Notenänderung abgezogen hat, als es in der Klausurbesprechung offenkundig wurde. Natürlich hat mir das damals weh getan, aber es war nicht so, dass ich dem Lehrer gegenüber ein Ressentiment gehabt hätte. Es war halt mein persönliches Pech, habe ich gedacht. Als Lehrer heutzutage praktiziere ich das aus wohlüberlegten Gründen anders, aber ich kann seine pädagogische Entscheidung damals nachvollziehen und respektieren.
Fachwissenschaftlich hatte der Lehrer aus meiner heutigen Sicht durchaus seine Schwächen. Seine Widerlegung der Existenz eines militiärisch-industriellen Komplexes kann ich als Historiker nur als fehlerhaft betrachten, ebenso seine Meinung, dass eine Kultur nur dann eine Geschichte hat, wenn diese Geschichte schriftlich niedergeschrieben ist. Beschränkt das die Qualtität dieses alten Kollegen als Lehrer? Nein, ganz bestimmt nicht. Ein Lehrer vertritt eine fachliche Meinung und es die Aufgabe des Schülers, sich daran zu reiben und abzuarbeiten. Lässt man als ehemaliger Schüler die Meinung als fehlerhaft zurück, ist das völlig in Ordnung. Das wichtige ist, dass der Kontrapunkt beim ehemaligen Schüler in Erinnerung bleibt und zwar als der Kontrapunkt einer Person, die man respektieren kann.
Ich habe vor Jahren erfahren, dass dieser ehemalige Lehrer an Krebs verstorben war. Es hat mich persönlich betroffen und traurig gemacht. Kann es ein besseres Zeugnis für einen ehemaligen Lehrer geben?