Unter anderem hat er ein Interview mit einem Staatsanwalt des baselbieter Kantonsgerichts in Liestal geführt und ihm genau diese Frage gestellt: Warum ist eigentlich Alkohol erlaubt und Ecstasy nicht? Der Herr Staatsanwalt hat nur gelacht. Ja, so ist es halt mit der hiesigen Moralvorstellung vereinbar, einen rationalen Grund gibt es dafür nicht.
Aus historischer Sicht finde ich das Beispiel sehr interessant und bin im Gegensatz des Staatsanwaltes sehr wohl der Meinung, dass sich diese Sachverhalte rational beschreiben lassen. "Rational" heißt aber in diesem Sinne nicht, dass es um den tatsächlichen Schaden oder Nutzen der diskutierten Stoffe ginge. Ich vermute, dass dem Staatsanwalt die historische Dimension des Rechtes nicht bewusst war.
Unsere Rechtsprechung ist "lebendig" in dem Sinne, dass sie ein für den Moment fixes Regelsystem darstellt, das das Ergebnis eines verhandelten Diskurses über die Möglichkeiten und Grenzen des Zulässigen zu einem historischen Zeitpunkt ist. In diskurshistorischer Terminologie handelt es sich um ein diskursives Dispositiv, dass sich durch die historischen Strata hindurch verändert.
Wir sind momentan in der Drogenpolitik und der Rechtsprechung darüber an einem Punkt der Veränderung. Die politische Auseinandersetzung, die in die Gesetze und auch in die Rechtsprechung mündet, zeigt die Perspektivverschiebung, die du nennst. Einer der Diskurse, die als Subtext Basis der politischen Auseinandersetzung sind, ist die Ethik. (Es gibt auch andere, z.B. empirisch pragmatische Diskurse, die die Wirkung von Prohibition beschreiben bzw. bezweifeln.)
Das bringt uns dann zu dem Verhältnis von religiöser Moral und rational definierter Ethik. Letztere ist sich ihrer Natur als historischer Moment eines stetigen, dynamischen Verhandlungsprozesses bewusst. Ethik versucht immer, das bestmögliche Verhalten des Individuums im historisch jeweilig dominierenden Verständnis zu bestimmen. Die religiöse Moral ist apodiktisch. Sie geht von einem metaphysisch gesetzten System "immergültiger Wahrheiten" aus, das in der als "offenbart" verstandenen schriftlichen Niederlegung der Mythologie für jeden verständlich gesetzt sei.
Diese apodiktische Moral führt in der Realität natürlich zu Widersprüchen und gleichzeitig ist sie wesentliches Gelingensmoment religiösen Fundementalismus'. Fundamentalistische Systeme - seien es die menschenverarchtenden Mordbanden des "Islamischen Staates", die grausame Diktatur der saudischen Wahabiten oder die frauen- und divergenzverachtende Kultur der evangelikalen Christen z.B. der Fly-Over-States in den USA sind nur durch eine absolut konsequente, wörtliche Befolgung der genannten "offenbarten immergültigen Wahrheiten" ideologisch zu rechtfertigen.
Das bedeutet, dass die "gemäßigte" Theologie, d.h. das für den historischen Moment gültige Regelsystem zur Anpassung der Mythologie an die historisch momentanen diskursiven Verhandlungsergebnisse, genau die ethische Entwicklung nachvollzieht, die religiöse Vertreter gleichzeitig gerne als "moralischen Relativismus" und als "Zeitmode" denunzieren. Anders ließe sich der grundlegende Widerspruch, der zwischen dem wortgetreuen Verständnis der "heiligen" Schriften und ihrer vollständigen Aufgabe nicht lösen. Mit der Überbrückung dieses Widerspruchs eingekauft wird offensichtlich eine Verlagerung des Konflikts auf eine niedrigere Ebene, womit der ganze Komplex zwischen "Sünde" und "Vergebung" entsteht: im diskursiven Dispositiv als akzeptabel vereinbartes Verhalten wird vom Gläubigen befolgt, obwohl es im retardierenden Moment der Religion als verboten deklariert ist: z.B. die Ehescheidung und anschließende Wiederverheiratung bei Katholiken. Oder das Glas Bier am Abend bei Muslimen. Oder die schwule oder lesbische Existenz, die nur im Verborgenen ausgelebt wird. Religiöse Autoritäten haben natürlich nichts gegen diesen Komplex, denn sie sichert ihnen Macht durch die Unterwerfung in Hoffnung des "Sünders" auf Absolution.
Zusammengefasst: in einer rationalen, toleranten Gesellschaft stellt die religiöse Moral schon aus diskurstheoretischen Gründen, ohne überhaupt auf eine inhaltliche Diskussion abheben zu müssen, einen schädlich, gesellschaftlich retardierenden Faktor dar. Aus diesem prinzipiellen Grund muss der Einfluss religiöser Machtorganisationen wie z.B. der katholischen Kirche zurückgedrängt werden und ihr Denken dem Rechtstaat - anders es jetzt der Fall ist - unterworfen werden. Abschaffung des Religionsunterrichts, Abschaffung der Kirchenprivilegien.