Hallo eilo,
das ist vielen Leuten leider nicht bekannt. Als ich erstmals davon erfuhr, dachte ich auch, dass es sich um Propaganda oder Übertreibungen der Kirchenkritiker handeln müsse. Inzwischen weiß ich natürlich, dass das tatsächlich der Wahrheit entspricht.
Ich denke, dass der politische Einfluss der großen beiden Kirchen in Deutschland so groß ist, dass sich in absehbarer Zeit die Dinge auch nicht ändern werden. Man muss bedenken, dass wir bis heute jährlich Entschädigungsleistungen in Millionenhöhe zahlen für die kirchlichen Enteignungen als Folge des Reichsdeputationshauptschlusses 1803, ist ebenfalls vielen Menschen unbekannt.
Die Kritik diesbezüglich nimmt langsam zu und sorgt für ein gewisses Problembewusstsein, aber wenn man bedenkt, was die Kirchen sich in der Vergangenheit geleistet haben und welche Haltung sie gegenüber offensichtlichen Problemen einnehmen, wird doch deutlich, dass man sich in bequemer Sicherheit wähnt und das wohl zurecht.
Wer heute in Deutschland ein behindertes Kind abtreiben möchte, muss entweder ins europäische Ausland gehen oder sich hierzulande an den wenigen staatlich finanzierten Kliniken, die solche Eingriffe durchführen, vor Ethik-Kommissionen und Beratungsinstanzen rechtfertigen. Es wird allgemein erwartet, dass man den behinderten Fötus austrägt und mit den Folgen lebt. Dahinter steht das kirchliche Dogma, dass ungeborenes Leben um jeden Preis zu schützen sei. Die Folgen sind in Sachen Verhütung weithin bekannt.
Die aktuelle Diskussion um Paragraf 219a (Information über Abtreibungen/Schwangerschaftsabbrüche) zeigt ganz deutlich, wie schwer es nach wie vor ist, längst überfällige Liberalisierungen politisch - gegen die Kirchen und d.h. christlichen Parteien - durchzusetzen. Hier wird kriminalisiert und tabuisiert auf Kosten der Betroffenen.
Das Problembewusstsein in der Bevölkerung ist noch nicht ausgeprägt genug. Bleibt nur zu hoffen, dass sich dies in den kommenden Jahren ändert.
der Buntflieger
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Hm, das habe ich anders in Erinnerung. Die Kirche bekommt nicht jährlich Entschädigungsleistungen für die Enteignungen infolge des Reichsdeputationshauptbeschlusses von 1803, sondern infolgedessen wurde für die Finanzierung ihrer Arbeit und ihrer Aufgaben die Kirchensteuer eingeführt. Schnell mal überflogen, fühle ich mich hier bestätigt:
In Preußen wurde im Zuge des Kulturkampfes nach dem Brotkorbgesetz gegen den ausdrücklichen Willen der katholischen Kirche am 20. Juni 1875 das Gesetz über die Vermögensverwaltung in den katholischen Kirchengemeinden erlassen. Es sah in § 21 Abs. 7[9] vor, dass der Kirchenvorstand sich mit Zustimmung der Gemeindevertretung die zu „den kirchlichen Bedürfnissen erforderlichen Geldmittel oder Leistungen“ von den Kirchenmitgliedern beschaffen dürfe. Diese Abkehr von der bis dahin gültigen Finanzierung aus den auch von Andersgläubigen bezahlten Steuermitteln wird mitunter als erstmalige Erwähnung einer Kirchensteuer im preußischen Gesetz angesehen. Die tatsächliche Kirchensteuer im heutigen Sinn führte Preußen jedoch erst mit dem Gesetz, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern in den katholischen Kirchengemeinden und Gesamtverbänden vom 14. Juli 1905 flächendeckend ein, sowie für die evangelischen Gemeinden mit ähnlichen Gesetzen in den Jahren 1905 und 1906.
https://de.wikipedia.org/wiki/…tschland)#19._Jahrhundert
[Hervorhebung von mir]
Der Einfluss der Kirchen scheint mir auch nicht mehr so groß wie früher und er scheint mir auch eher zu schwinden. Vielleicht ist dieser Eindruck meiner Ost-Perspektive geschuldet, wo ja rund 80% der Menschen keiner Kirche mehr angehören und wohl etwa ebenso viele offen "nicht gläubig" sind.
Auch deine Aussagen zur Abtreibung voraussichtlich behinderter Kinder (ungeborenes Leben) teile ich nicht. Ich sah erst dieser Tage einen Fernsehbericht, wonach immer weniger voraussichtlich behinderte Kinder in Deutschland ausgetragen werden, nachdem es immer früher und besser möglich ist, eine voraussichtliche Behinderung (z.B. Down-Syndrom) zu erkennen. Dass die Kirche infrage stellt, dass voraussichtlich behinderten Kindern immer öfter das "Lebensrecht von vornherein verweigert" wird aufgrund dieser ihrer Behinderung, finde ich eigentlich gut. Wollen wir nur noch "perfekte Menschen" auf die Welt kommen lassen? Eine Antwort zu dieser Frage maße ich mir aber nicht an. Es ist zu einfach, anderen etwas zu raten, wovon man selber nicht betroffen ist.
Dass eine Liberalisierung im Abtreibungsrecht längst überfällig ist, ist eine Wertung ("längst überfällig"), die deiner eigenen Haltung dazu entspricht. Andere haben eine andere Haltung dazu und finden da gar nichts "überfällig". Die Kirche folgt hier durchaus der Logik ihrer eigenen Grundwerte. Einer dieser Grundwerte lautet nämlich "Du sollst nicht töten!". Die Frage ist nur eben, ob das ein Töten ist und ob das, was da "weggemacht" wird, schützenswert ist oder nicht. Nicht nur die Kirche meint dazu, dass das Leben mit der Zeugung beginnt und nicht erst am 85. Tag danach (wenn man z.B. die 12-Wochen-Frist der ehemaligen DDR zugrunde legt, die ja nun in abgewandelter Form gilt). Ich wüsste eigentlich keinen überzeugenderen Zeitpunkt als den Akt der Zeugung als Beginn des Lebens. Die das nicht so sehen, sind hier in der Erklärungspflicht!
Ich will nochmal abschließend darauf verweisen, dass das Aussetzen unerwünschter Kinder in der vorchristlichen Zeit legal und akzeptiert war. Die Kirche verbot es auf der Grundlage ihrer christlichen Werte (Du sollst nicht töten!) und kämpfte doch jahrhundertelang noch gegen diese weit verbreitete Praxis. Um mal konkrete Zahlen zu nennen: 1772 wurden in Paris rund 7700 Kinder ausgesetzt, sogenannte Findelkinder. Das war ein Drittel aller Neugeborenen. Man rechne das mal auf das ganze Land hoch! Womöglich gibt es heutzutage nur deshalb nicht mehr so viele Findelkinder, weil wir andere Möglichkeiten haben, unerwünschte Schwangerschaften/Geburten zu verhindern. Gott sei Dank. Aber wir alle hören und lesen immer wieder auch in unserer Zeit und mit großer Bestürzung von sogenannten "Babyleichen". (Bedeutet es für dich eigentlich auch eine Kriminalisierung, das Aussetzen von Neugeborenen zu verbieten? Weil sowas Schreckliches doch keiner täte?)
Übrigens verbot die Kirche in der gleichen Logik ihren Anhängern auch den Selbstmord/Freitod. Der große Kirchenvater Augustinus bezeichnete den Selbstmörder als den schlimmsten Mörder, weil er seinen Nächsten töte, nämlich sich selbst. Die Kirche konnte dem nicht zustimmen, denn wer sich selbst töte, so hieß es, töte schließlich auch einen Menschen. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass man auch Sorge hatte, zu viele Menschen würden/hätten sonst freiwillig das "irdische Jammertal" verlassen, um ein besseres Leben im Himmel zu finden. Man erinnere sich an die "Massenselbstmorde" von Sektenmitgliedern. Siehe: http://www.spiegel.de/einestag…estown-1978-a-948013.html