Zweiter Teil der Antwort: (offenbar sind nur 10.000 Zeichen erlaubt)
Nun zum Diskussionsinhalt:
Wie ich eingangs ja schon geschrieben habe, stimme ich dir beim Thema Arbeitsbedingungen ja komplett zu. Stellenweise sind die Bedingungen sogar fast prekär.
Nur ein paar Beispiele (es gäbe sicher noch viel mehr):
1. Problem: Die Zeit
In meinem Kanton bedeuten 28 Wochenlektionen ein 100% Pensum. Schlussendlich ist ein 100% Pensum aber kaum zu schaffen, weil die Arbeiten neben der eigentlichen Unterrichtstätigkeit so umfangreich sind, dass die meisten engagierten Lehrpersonen reihenweise Überstunden machen müssen (die dann auch nicht komplett in den Ferien abgebaut werden können, weil dort in der Regel die Vorbereitung weitergeht). In meinem Kanton wird die Klassenlehrerfunktion beispielsweise mit 100 Jahresarbeitsstunden berechnet. Bei mir waren diese 100 Stunden dieses Jahr bereits nach dem ersten Quartal verbraucht. Ich hatte ein paar schwierige Fälle zu regeln, die einfach Unmengen an Stunden gefressen haben. Aber welcher Klassenlehrer hat das nicht?
Es ist ja auch kein Zufall, dass es nur wenige Primarlehrpersonen gibt, die 100% arbeiten. Natürlich ist die hohe Teilzeitquote auch (teilweise) durch die private Situation der (überwiegend weiblichen) Lehrpersonen erklärbar. Aber auch die meisten Lehrpersonen, die keine familiären Verpflichtungen haben, entscheiden sich gegen 100%, weil das einfach schwer zu stemmen ist.
Daraus leite ich nun zwei Dinge ab: Erstens muss das Arbeitspensum hier unbedingt frei verhandelbar sein, damit jede Lehrperson für sich entscheiden kann, wie viel sie leisten kann und nicht reihenweise Lehrpersonen burnout-bedingt ausscheiden. Der Lehrerberuf ist einfach kein gewöhnlicher Beruf, den jede/r problemlos 5 Tage pro Woche stemmen kann. Nun erkennst du vielleicht, warum mir ein frei verhandelbares Pensum so wichtig scheint. Mit starren Vorgaben wäre der Beruf (zumindest in der Schweiz) für ganz viele gute Lehrpersonen einfach nicht zumutbar. Mich interessiert deshalb brennend, wie es da den deutschen Kollegen/Kolleginnen ergeht. Es gibt ja wahrscheinlich ähnliche Problemfelder. Wie geht ihr damit um?
(Nebenbemerkung zum Pensum/Gehalt: Wenn über die Gehälter von Primarlehrpersonen gesprochen wird – die tatsächlich häufig sehr gut sind – sollte deshalb auch berücksichtigt werden, dass die wenigsten Lehrpersonen einen 100% Lohn erreichen können/wollen)
2. Problem: Ressourcen
Die Schulen in der deutschsprachigen Schweiz arbeiten grundsätzlich sehr integrativ. Das ist ja auch gesetzlich so verankert und hat sicher seine Berechtigung. Durchschnittlich besuchen etwa 1-2 % der Schülerinnen und Schüler sogenannte Sonderschulen. Dabei gibt es aber grosse kantonale Unterschiede.
Nun stützt sich dieses Konzept allerdings darauf, dass Kinder mit grossem Förderbedarf in der Regelschule zusätzliche Unterstützung erhalten, z.B. von Heilpädagog/innen, Logopädie, Psychomotorik, Schulpsycholog/innen. Nun gibt es aber vor allem bei den Heilpädagogen in meiner Region einen massiven Engpass, der wohl noch einige Jahre bestehen bleibt. Wie geht man damit um? In meiner Schule wird das mit einer endlosen Kette von Stellvertretungen gelöst. Langfristige Ziele können mit den Kindern so natürlich kaum erreicht werden. Beziehungen müssen am laufenden Band aufgebaut werden und werden dann wieder abrupt gekappt. Das ist Gift für die Primarstufe.
Ganz konkret ist z.B. in meiner Klasse die Heilpädagogenstelle sogar tatsächlich unbesetzt, weil sich seit mehreren Wochen überhaupt kein Ersatz findet. Den DaZ-Unterricht macht bei mir ein Französisch-Student und die Logopädinnen fallen gerade eine nach der anderen schwangerschaftsbedingt aus. Das soll kein Vorwurf sein, ist einfach eine Realität.
Für mich bedeutet das natürlich einen massiven Mehraufwand, der in meinem Arbeitspensum überhaupt nicht berücksichtigt wird. Schon allein die fortlaufende Einarbeitung der Stellvertretungen verschlingt einfache viele Ressourcen. Und noch viel wichtiger: Wir werden den Kindern so einfach nicht gerecht. Und in unseren reichen Ländern finde ich das einfach tragisch. Dort darf es einfach keinen Engpass geben.
3. Problem: die Ausbildung
Ich stimme dir ja zu, dass die Ausbildung zum Primarlehrer in der Schweiz mangelhaft ist. Die Frage ist nur, wo ist sie mangelhaft? Müsste ich mich fächerbezogen mehr vertiefen können oder etwa für die vorhandenen Inhalte mehr Zeit bekommen? Manchen könnte das helfen, mir persönlich hätte das wenig gebracht.
Aber vielleicht stimmst du mir zu, dass der PH-Unterricht derzeit (trotz der vielen Praktika) viel zu theoretisch ist. Im Alltag vieler Primarlehrpersonen müssen erst grosse soziale Problemkreise abgearbeitet werden, bevor die Unterrichtsvorbereitung und -durchführung angegangen werden kann.
Beispielhaft:
Wie gehe ich mit schwierigen Eltern um, die einfach nur ihrem Kind nachplappern? Wo ziehe ich (mit Rückendeckung) rote Linien, die die Eltern nicht überschreiten dürfen? Wie gehe ich mit Kindern um, die ich zwar im Unterricht im Griff habe, aber auf dem Pausenhof und auf dem Weg zum Bus verrückt spielen? Wo fängt die Verantwortung/Zuständigkeit der Schule an, wo hört sie auf? Wie gehe ich mit Beleidigungen im Klassenchat der Kinder um, die ab der 3./4. Klasse enorm verbreitet sind? Wie gehe ich mit Schulleitern um, die mir mehr abverlangen, als sie sollten und ihrer Rolle nicht gerecht werden?
All das kann man erst nachvollziehen, wenn man tatsächlich die Rolle einer Klassenlehrperson übernommen hat und ohne doppelten Boden eines Praktikums arbeiten muss. Insofern wäre mein Vorschlag, die PH-Ausbildung nach 2-3 Jahren zu unterbrechen, sodass man echte Erfahrung sammeln kann. Danach könnte man dann mit Substanz über solche Themen diskutieren. Gleichzeitig wäre natürlich eine viel engere Begleitung der Berufseinsteiger/innen wünschenswert, ohne dass das in irgendeine Bewertung einfliesst oder weitere Überstunden bedeutet. Klar könnte man das auch mit freiwilligen Fortbildungen angehen. Aber wer hat dafür die Zeit?
Wie siehst du diesen Vorschlag?
Und nun zum letzten Fazit:
Du siehst, dass ich hier überhaupt keine rosarote Brille aufhabe und vieles sehr kritisch sehe. Um auch das wieder zu relativieren: Für mich ist das trotzdem der tollste Beruf auf Erden, weil die Arbeit mit den Kindern einfach grossartig ist.
Aber die Rahmenbedingungen müssen eben stimmen. Und für mich war (und ist) es ganz essenziell, dass ich die Rahmenbedingungen beeinflussen kann. Dazu gehört es für mich, dass ich mehrere Schulen «ausprobieren» kann und schlussendlich dort arbeite, wo die Kolleginnen und die Schulleitung einigermassen ähnliche Vorstellungen und Visionen haben. Die Unterschiede zwischen den Primarschulen sind nun einmal riesig.
Einmal musste ich eine Schule verlassen, weil der Kollege nebenan einfach unerträglich war und sein Verhalten gegenüber den Kindern viele Grenzen überschritten hat. Da man aufgrund des Lehrermangels kaum eine Lehrperson entlassen kann, habe dann einfach ich stattdessen die Schule gewechselt. Ist für mich ganz entscheidend, dass ich solch eine Möglichkeit habe. Ausserdem habe ich für mich persönlich bereits beschlossen, dass ich mein Arbeitspensum im Laufe der Jahre vermutlich ganz graduell senken werden. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ich mit 50 Jahren diese Belastung täglich stemmen kann. Diese Freiheit ist hier in der Schweiz vorhanden. Wie läuft das in Deutschland, wenn man dafür erst Kinder vorweisen muss? Gibt es nur wenige Kolleg/innen, die ab 50/60 Jahren gerne reduzieren möchten?
Das sind alles ehrlich gemeinte Fragen.