Aber ich kenne die andere Seite und die ist trotz vieler systemischer Mängel im Schulsystem durchaus nicht immer so rosig, wie es im verhätschelten Lehramt scheint.
In der Vergangenheit habe ich schon Ähnliches hier geschrieben (ich weiss, du auch 🙂), deshalb versuche ich an dieser Stelle noch eine neue Variante
Beide Systeme, die sogenannte „freie Wirtschaft“ und das Lehramt haben Vor- und Nachteile. Auch hier im Forum habe ich schon häufiger beobachtet, dass gerne die Nachteile des Lehrerberufs mit den Vorteilen der freien Wirtschaft verglichen werden. Psychologisch völlig verständlich, wenn man mit seiner aktuellen Situation unzufrieden ist - das Gras des Nachbarn ist immer das Grünere. Nur ist dieser Standpunkt unrealistisch.
Anekdotische Evidenz scheint mir hier auch eine gewisse Rolle zu spielen. Wenn ich in einer luxuriösen Gegend wohne, mein privates Umfeld vorwiegend aus erfolgreichen Managern besteht, oder Freunde/Familie/Lebenspartner super Jobs in der Privatwirtschaft haben, ist meine Wahrnehmung der Realität möglicherweise einseitig (ja, das sind paraphrasierte Aussagen aus dem Forum, die Insider wahrscheinlich bereits zuordnen konnten 🤭). Genauso einseitig wie „Lehrer bereiten nur einmal im Leben ihren Unterricht vor, haben morgens recht und nachmittags frei und ausserdem immer Ferien bei einem dekadenten Beamtengehalt.“
Die andere Position, nur die Vorteile des Lehrerberufs zu sehen, insbesondere wenn es um die Entscheidung für den Beruf geht, aber die Nachteile auszublenden, ist natürlich ebenso unrealistisch.
Wenn ich jetzt schreibe, dass man immer das Gesamtpaket ansehen und Vor- und Nachteile individuell abwägen muss, dann hört sich das erstmal nach Binsenweisheit an. Interessanterweise scheint es aber trotzdem so zu sein, dass es nicht alle so machen 😉 Entscheidend ist meiner Meinung nach, sich darüber klar zu werden, was man möchte und was nicht.
Nehmen wir mal ein Beispiel, das ich einigermassen kenne - mich 😉
Ungefähr 10 Jahre (inklusive Lehrzeit) habe insgesamt in meinem Leben in der Wirtschaft gearbeitet (wer mich enttarnt hat, kann das in meinem LinkedIn Profil checken 🙃). Ja, ich habe möglicherweise länger als andere gebraucht, um in vielem Klarheit über mich zu gewinnen (dieser Prozess ist nicht abgeschlossen…).
Dazu gehört, dass ich inzwischen recht gut weiss, was ich nicht bin oder nicht mag:
- „I’m not a corporate person“
- Ich sitze nicht gerne stundenlang an einem Schreibtisch
- Ich verbringe nicht gerne den ganzen Arbeitstag in einem Büro
- Ich reise nicht gerne
- Ich mag regelmässige „9-17“ Arbeitszeiten nicht
- Administrative und organisatorische Aufgaben finde ich sterbenslangweilig
- „Manager“/Gruppenleiter/Abteilungsleiter/CEO von irgendwas zu sein, allgemein „Karriere machen“, reizt mich gar nicht
- „Projekte“ und Meetings auch nicht
- Geld, egal wieviel, motiviert mich nicht Dinge zu tun, die mich nicht interessieren
- Ich bin eigentlich kein Forscher, obwohl ich es als Doktorand einige Jahre lang gemacht habe
Dagegen mag ich:
- Unter Menschen sein, Interaktion mit Menschen - ich muss auch nicht „abschalten“ oder „runterkommen“ nach viel sozialer Interaktion, für mich gibt es da keine Belastungsgrenze … ich muss nur irgendwann mal schlafen 😂
- Arbeit mit Menschen
- Menschen helfen
- Allgemein: Menschen 🙂
- Sinnstiftende Arbeit
- Kommunikation
- Lehren
- neues Lernen
- Mathe und Physik 😊
- Probleme lösen
- Eigenverantwortlich arbeiten und meine Arbeitszeit im Rahmen des Möglichen frei gestalten können
- Unregelmässige Arbeitszeiten
- Kreativ und spontan sein, neues Ausprobieren
- Regelmässige Bezahlung, deshalb käme Selbstständigkeit nie in Frage
Keine dieser Listen ist vollständig, aber mehr fällt mir gerade nicht ein. Listen sind eigentlich nicht mein Ding, der Abgleich fand bei mir ausschliesslich in meinem Kopf statt. Aber wenn ich das so vor mir sehe, dann habe ich schwarz auf weiss, dass ich am richtigen Ort bin 😊
Vielleicht ja eine Motivation, so einen Abgleich einmal selbst zu versuchen…?