Ich finde es gibt einige gute Argumente gegen die bindende Schulformempfehlung und diese wurden hier auch schon genannt. Mit dem Fokus der Bildungsgerechtigkeit kann man auch für die bindende Schulformempfehlung argumentieren - dann aber mit einem Haken: Die Herkunftseffekte beim Übergang zeigen laut Aladin El-Mafaalani, dass die Empfehlungen der Lehrkräfte insgesamt fairer sind, als die Entscheidungen der Eltern aus benachteiligten Familien oder Familien mit Migrationsgeschichte. Möchte man eine bindende Empfehlungen für bessere Bildungschancen einführen, muss die Empfehlung auch wirklich bindend in alle Richtungen sein. Kinder aus benachteiligten Familien werden entgegen der Gymnasialempfehlung häufiger an Realschulen angemeldet, während Kinder aus privilegierten Familien häufiger am Gymnasium angemeldet werden, obwohl sie eine Realschulempfehlung haben. Beides sollte dann nicht mehr möglich sein.
Zitat von Aladin El-Mafaalani: Mythos BildungDie Entscheidungen der Eltern verstärken nämlich die herkunftsbedingten Unterschiede weiter. Genau genommen ist das Lehrerurteil sogar fairer als das Elternhandeln. (...) Interessanterweise stellt die Übergangsempfehlung selbst dort, wo sie verbindlich ist, lediglich eine Obergrenze dar. Kinder mit einer Realschulempfehlung dürfen nicht auf das Gymnasium, Kinder mit einer Gymnasialempfehlung können aber an einer Realschule angemeldet werden. Dieses Nach-unten-Abweichen wird von Arbeiterfamilien tatsächlich häufig praktiziert, von akademisch gebildeten Eltern nicht.
So oder so müsste es mehr Sensibilisierung für das Thema Schulformempfehlung und -beratung bei Kindern aus benachteiligten Familien geben. Im Buch Mythos Bildung wird zum Beispiel auch erklärt, dass weiche Kriterien wie Einstellung zum Lernen und Familienhintergrund Bildungsungerechtigkeit beim Übergang verstärken und das vermeintliche Leistungsprinzip dabei konterkarieren:
Zitat von Aladin El-Mafaalani: Mythos BildungSelbst das KMK gibt vor, weiche Kriterien wie Fleiß und Einstellung zum Lernen in die Empfehlung einfließen zu lassen, sodass nicht allein die Leistung entscheidet. Das entspricht aus habitustheoretischer Sicht dem Matthäus-Prinzip: 'Wer hat, dem wird gegeben' bzw. 'wer es schwieriger hat, dem wird noch weniger gegeben'.
Spannend auch die Perspektive, die El-Mafaalani bezüglich der Unterstützung in der Familie gibt: Nehmen wir den hypothetischen Fall von zwei Kindern mit gleich guter Leistung an der Schwelle zwischen Realschul- und Gymnasialempfehlung, wobei ein Kind aus einer Familie mit weniger und ein Kind aus einer Familie mit mehr Unterstützung kommt. Dann neigt man vielleicht erstmal dazu, dem Kind mit mehr Unterstützung aufgrunddessen eher die Gymnasialempfehlung zu geben. Die andere Perspektive ist aber eben, dass das Kind mit weniger Unterstützung zuhause mehr unausgeschöpftes Potenzial besitzt, als das Kind mit Unterstützung, das in der vierten Klasse schon Nachhilfe in Deutsch und Mathe bekommen hat, um es auf das Gynasium zu schaffen.
Das Buch kann ich insgesamt wirklich sehr empfehlen. Die Bildungsexpansion, die vermeintlich zu einem Niveauverlust geführt hat, wird darin als eine der erfolgreichsten Maßnahmen für mehr Chancengleichheit beschrieben und das Paradox, das zu dieser Bewertung des Niveauverlusts führt, dass alle schlauer werden und keiner es mitbekommt, erklärt.
Bezüglich des Erziehungsauftrag möchte ich ergänzen, dass Schule und Eltern nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts schon - je nach Definition des Wortes - gemeinschaftlich verantwortlich für die Erziehung sind:
Im Bereich der Schule treffen Erziehungsrecht und Erziehungsverantwortung der Eltern auf den Erziehungsauftrag des Staates. Dieser Auftrag ist dem elterlichen Erziehungsrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet. Soweit die Kinder Schulen besuchen, ist ihre Erziehung gemeinsame Aufgabe von Eltern und Schule. Sie ist in einem sinnvoll aufeinander bezogenen Zusammenwirken zu erfüllen. Der Staat muss daher in der Schule die Verantwortung der Eltern für den Gesamtplan der Erziehung ihrer Kinder achten und für die Vielfalt der Anschauungen in Erziehungsfragen so weit offen sein, wie es sich mit einem geordneten staatlichen Schulsystem verträgt. Die dafür notwendige Abgrenzung von elterlichem Erziehungsrecht und staatlichem Erziehungsauftrag ist Aufgabe des Gesetzgebers
Das finde ich vor allem wichtig bei der Aufgabe der Schule, Kindern verschiedene Weltanschauungen zu eröffnen bzw. Aufklärung betreiben zu können. Den Zusammenhang zur Schulformempfehlung verstehe ich aber nicht.