Handelt es sich bei einer Situation um akute Eigen- oder Fremdgefährdung? Dann greife ich im Notfall auch physisch ein, trenne Streithähne, halte fest um Verletzungen zu vermeiden (ohne allzu fest zuzupacken, zu zerren oder anderweitig selbst zu verletzen), sorge auch physisch für Abstand wenn notwendig.
Mit ein bisschen Abstand betrachtet befinden sich Schüler in einer Klasse ja oft in einer sehr anstrengenden Situation: zu wenig Raum, um sich gegenseitig bei Konflikten aus dem Weg zu gehen oder Emotionen auszuagieren, je nach Klassenlehrer wird ihnen mehr oder weniger vorgegeben, was zu tun ist, obwohl subjektiv betrachtet für das Kind gerade ganz andere Themen relevant sind. So viele Bedürfnisse von so vielen Menschen, und da stellt sich jemand hin (ein Lehrer oder eine Lehrerin) und nimmt in Anspruch, die Klasse gut zu führen.
Es gibt mindestens zwei Extremformen, jemand anderen dazu zu bringen zu tun, was ich von ihm will: ich kann ihn mit Druck dazu bringen oder er ordnet sich mir vertrauensvoll unter. Wenn Kinder neu in die Schule kommen hat ihr Lehrer üblicherweise eine Art Vertrauensvorschuss weil Eltern dem Kind erzählen dass der Lehrer ein guter sei und sie sich bei Schwierigkeiten an ihn wenden können. Mit der Zeit wird dieser Vorschuss dann eben von der erlebten Realität entweder bestätigt oder verblasst. Die Voraussetzung, dass ich jemand vertrauensvoll und freiwillig unter den Willen eines anderen unterordnen wird, ist die Gewissheit, dass der Führende die eigenen Bedürfnisse im Idealfall erfüllt oder zumindest achtet. Niemand (auch ein Erwachsener nicht) folgt auf Dauer freiwillig jemandem, dem die eigenen Bedürfnisse egal sind.
Nun ist es natürlich als Lehrer extrem schwierig, die Bedürfnisse aller Schüler unter einen Hut zu bringen oder teilweise auch zu erraten, aber das akzeptieren Schüler in meiner bisherigen Erfahrung auch, solange sie das Gefühl haben dass ihre Bedürfnisse an sich respektiert werden (selbst wenn sie aus Unwissen oder den Notwendigkeiten der Situation gerade nicht erfüllt werden). Es macht für einen Schüler einen riesigen Unterschied ob ich ihm sage er solle jetzt gefälligst seine Aufgabe erledigen oder ob ich ihm das Gefüh gebe, ich verstehe seine Situation (Bedürfnisse), nur sei hier und jetzt leider (!) nicht der passende Ort dafür, und man versucht gemeinsam eine Perspektive für ihn zu finden, seinen Bedürfnissen zu einem geeigneten Zeitpunkt und Ort nachzukommen. Auch von den eigenen Bedürfnissen zu erzählen hilft, weil dadurch (nach meiner Erfahrung auch bei Grundschulkindern und noch Jüngeren) eine Art "größerer Zusammenhang" für sie verständlich wird und sie die Konsequenzen des eigenen Verhaltens erkennen können.
Wenn ein oder mehrere Schüler für sich unbewusst fühlt, dass seine Bedürfnisse von der Führung des Lehrers nicht anerkannt werden, wird er als ersten Schritt üblicherweise versuchen, sich die Bedürfnisse ohne andere zu stören selbst zu erfüllen (etwa das Bedürfnis nach Bewegung über Wippen mit den Füßen). Gelingt dies nicht, wird er - wenn er ein Rest-Grundvertrauen in den Lehrer hat - versuchen, den Gruppen-Führer auf seine Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Gelingt dies ebensowenig, stellt er die Autorität der Gruppenführung (in dem Fall des Lehrers) auch offen in Frage, es passieren Machtkämpfe usw. Wenn die Situation einmal soweit gediehen ist, wird es langfristig neben der Wiederherstellung der eigenen Autorität wichtig sein, die unerfüllten Bedürfnisse der "Agitoren" unter den Schülern herauszufinden. Oft geht es überhaupt nicht um den Lehrer an sich sondern um Konfliktsituationen in Familie usw., die zwar offiziell vielleicht "nicht Aufgabe des Lehrers sind" - nur Kinder haben oft (gefühlt) niemanden, an den sie sich wenden können, und wenn Bedürfnisse drücken dann drücken sie eben, vor allem wenn man noch zu klein und unerfahren ist, das Ausagieren ein wenig kontrollierter zu machen.
Es macht auch einen großen Unterschied, ob man einen Schüler in eine frustrierende Situation bringt und ihn damit alleine lässt oder mit ihm seine Frustration aushält ohne an der Situation selbst etwas zu ändern. Letzteres ist natürlich nicht immer leicht umzusetzen, kann aber enormes Vertrauen aufbauen wenn es gelingt. Frusterfahrungen sind für die Entwicklung enorm wichtig, brauchen aber auch Vertrauenspersonen, die über die Frusterfahrungen begleiten, sonst wiederholt der Mensch sie oder versucht ihnen auszuweichen.
Eine weitere wichtige Erkenntnis für mich war, dass Schüler oft räumlichen Abstand brauchen, um sich beruhigen zu können. Manche Schüler bringen sich in Situationen, in denen sie "nicht zurück können", ohne vor der Gruppe dumm dazustehen, da brauchen sie dann die Hilfe eines Erwachsenen der die Situation durchschaut und ihnen hilft, sie aufzulösen ohne das Gesicht zu verlieren.
Ich hoffe, die Antwort hilft ein Stück beim Finden passender Handlungsalternativen
Ein Bunterrichter