Ich bin überzeugt, dass das Thema Lesen den Unterschied macht zwischen Abitur und "Abitur".
In Deutschland lesen 25% der Erwachsenen (annähernd) täglich, 25% mindestens einmal wöchentlich, 18% mindestens einmal monatlich, der Rest gar nicht. Das sind keine katastrophalen Zahlen, aber für eine Bildungsnation ist das doch recht schwach. An den Gymnasien lesen durchschnittlich immerhin 10% der Kinder und Jugendlichen gar nicht privat, an mancher Innenstadtschule natürlich deutlich mehr und meiner Erfahrung nach dann oft auch nicht (viel) für die Schule. Der Rest liest schon, aber möglicherweise für eine Schulform, in der inhaltlich und methodisch das Sprachliche im Vordergrund steht und die auf eine akademische Laufbahn vorbereiten soll, zu wenig.
Es gibt ein relativ enges Zeitfenster, in dem Kinder zu Lesern werden oder eben nicht, nämlich zwischen acht Jahren, sofern sie dann schon schnell genug lesen können, um Lesen als Genuss zu empfinden (keine Selbstverständlichkeit, hängt vom frühzeitigen Vorlesen, dem Medienverhalten, der Konsequenz beim häuslichen Lesenüben etc. ab) und zwölf Jahren, bevor das Leseinteresse insbesondere bei den meisten Jungs in der Pubertät immer stärker nachlässt. Wer als Kind schnell und gut lesen gelernt hat, wird diese Fähigkeit auch in der Pubertät weiter ausbauen können, wer sich am Ende der Orientierungsstufe immer noch schwer tut, eher nicht. Interessant ist dann die Verteilung der Lesekompetenzstufen bei VERA 8. Die Welten, die Vielleser von Weniglesern trennen, sind ausgesprochen eindrucksvoll, und zwar unabhängig von der Herkunftssprache und dem Bildungshintergrund des Elternhauses. Wer wirklich viel liest, hat mit 14 Jahren keine Nachteile mehr, wer nicht oder nicht genug liest, quält sich oft durch die Schule, versteht seine Schulbücher und den Sinn manchen Oberstufenkurses nicht und tut sich im Studium enorm schwer. Die Abbrecherzahlen gehen sicher zu einem nicht unerheblichen Teil darauf zurück, dass Texte nicht tief genug verstanden werden und nicht zügig genug rezipiert werden können. Das betrifft überraschend oft auch Akademikerkinder.
Appelle gibt's ja genug, Möglichkeiten (öffentliche Bibliotheken, Onleihe, Buchbasare, Kinderflohmärkte) auch, jahrelange Impulse durch die Schule (Buchprojekte, Buchvorstellungen, Antolin, Klassenbibliotheken). Nicht jeder ist letzlich gewinnbar und das ist auch gar nicht nötig. Es gibt jede Menge anspruchsvolle, interessante und auch wirtschaftlich vielversprechende Berufsbilder, für die man nicht Kant oder Cicero gelesen haben muss. Nur wieso - UM HIMMELS WILLEN - muss es dann unbedingt das Gymnasium sein?