Aber natürlich bin ich in der Sache bei Euch, dass die soziale Herkunft keine Rolle für die weitere Schullaufbahn spielen darf. Allein die Leistung muss entscheidend sein. Deshalb bin ich ja auch für Aufnahmeprüfungen nach der Grundschulzeit.
Aber so, wie es jetzt läuft, dass fast jeder Hans und Franz das Gymnasium besucht, ist auch nicht der wahre Jakob. Woher kommen sonst die gegenwärtigen Probleme
Selbstverständlich spielt in einem selektiven Schulsystem die soziale Herkunft eine entscheidende Rolle für die Schullaufbahn. Und daran würden Aufnahmeprüfungen nach der Grundschulzeit nichts ändern. Vor und während ihrer Schulzeit werden Kinder sehr unterschiedlich gefördert, gefordert, ermutigt und vorgebildet. Sie haben außerdem sehr unterschiedliche gute Lern- und Arbeitsbedingungen. Natürlich haben es Kinder leichter, wenn ihe Muttersprache Deutsch ist, wenn im Kleinkindalter ihre Fragen beantwortet wurden, wenn die Eltern ihnen vorgelesen und mit ihnen gespielt haben, anstatt sie viel zu früh vor Bildschirme zu setzen. Selbstverständlich hilft es, wenn ihnen ein Schreibtisch in einem ruhigen Zimmer und bei Bedarf ein Nachhilfelehrer zur Verfügung stehen. Und wie könnte es keine Rolle spielen, wenn Eltern sich scheiden lassen, ihren Kindern ein leistungsloses Leben als Almosenempfänger vorleben oder einfach keine Zeit für ihre Kinder und deren Probleme haben bzw. sich nicht dafür interessieren?
Das sind nur einige der Gründe für die große Unterschiedlichkeit der familiären Voraussetzungen unserer Schülerinnen und Schüler. Weil wir die Eltern und damit auch die Unterschiedlichkeit der Lernenden kaum ändern können, bräuchten wir ein Schulsystem und Unterrichtsmethoden, die mit der gegebenen Unterschiedlichkeit umgehen können. Und das haben wir nicht, solange alle Jugendlichen in einer Schulklasse am selben Tag die selbe Klausur schreiben müssen. Nicht Hans und Franz und ihre Unterschiedlichkeit sind das Problem, sondern der unglaublich dumme Versuch, alle Lernenden einer Klasse im selben Tempo lernen lassen zu wollen. Da hilft auch nicht der lächerliche Versuch, die gesunden Lernenden in läppische drei Leistungsklassen einzuteilen. Es gibt keine 3 Leistungsgruppen, sondern ein ganz breites Spektrum.
Wenn alle Lernenden so viel und so schnell wie möglich lernen sollen, dann müssen sie auf ihren jeweiligen Lernständen abgeholt werden und in ihren eigenen Lerntempi sowie ihren jeweiligen Lerntypen entsprechend lernen dürfen. Das ist auch ohne zusätzliches Lehrpersonal möglich, wenn die Kinder von Anfang an daran gewöhnt werden, weitgehend selbständig zu lernen. Man benötigt dafür nur Selbstlernmaterial, welches sich aber mit den heute zur Verfügung stehenden Techniken durchaus herstellen lässt.
Natürlich würde die größere Freiheit beim Lernen gleichzeitig eine größere Verbindlichkeit bei den Leistungsnachweisen erfordern, aber das brauchen wir ohnehin. Denn das Abitur ist bereits seit Jahrzehnten kein wirklicher Nachweis einer allgemeinen Hochschulreife und erfolgreiche Absolventen von Realschulen können keinswegs unbedingt Lesen und Schreiben. Schon aufgrund der großen und pädagogisch auch notwendigen Bedeutung der mündlichen Mitarbeit kann man das Abitur schaffen, ohne wirklich etwas zu können. Statt des Etikettenschwindels Abitur, mittlere Reife oder Hauptschulabschluss brauchen wir Zertifikate, die aufgrund bundeseinheitlicher Prüfungen feststellen und bescheinigen, was die Prüflinge zum Zeitpunkt der Prüfung tatsächlich können. Und Hochschulen oder Arbeitgeber könnte verlangen, dass wichtige Prüfungen vor nicht zu langer Zeit (nochmals) abgelegt wurden. Berufsverbände könnten bekannt machen, welche Zertifikate ihre Bewerber vorweisen müssen. Und Lernende könnten mit ihren Eltern selbst entscheiden, ob sie sich auf die Prüfungen in einer Schule, mit Privatlehrern oder allein zuhause vorbereiten wollen. Zählen würde in erster Linie das Ergebnis und weniger die dafür benötigte Zeit. Aber die Flexibilität hinsichtlich der Lerngeschwindigkeit würde verhindern, dass Lernende über- oder unterfordert werden. Ein beispielsweise von den Universitäten, Berufsverbänden, Stiftungen und Vereinen organisiertes bundeseinheitliches Prüfungssystem könnte die Grenzen zwischen Schule und Erwachsenenbildung, zwischen Ausbildung und Fortbildung ebenso überflüssig machen wie die Gliederung unseres Schulsystems.
Mehr Freiheit und Flexibilität beim Lernen und Lehren auf der einen sowie mehr Verbindlichkeit und Vergleichbarkeit beim Nachweis von Wissen und Können auf der anderen Seite würde es nicht nur den Mittelmäßigen, sondern auch den Minder- und Hochbegabten ermöglichen, ihre Potentiale zu nutzen und vor allem die lebenslang notwendige Freude am Lernen nicht zu verlieren.