Auch auf die Gefahr hin, dass ich hier zum running gag werde:
Gestern lag mal wieder eine Ausgabe der NDS im Briefkasten. Und ich habe schon wieder einen Grund, mich aufzuregen.
S. 8 Überschrift: Sprachenlernen braucht individuelle Rezepte Neu zugewanderte Kinder in Kita und Schule
Wasser auf unsere Mühlen, da wir das Problem haben, dass in unseren "Internationalen Klassen" (die nur stundenweise laufen, weil wir nach dem Immersionsprinzip arbeiten) ein einheitlicher Unterricht kaum möglich ist, weil die Lernstände der Teilnehmer so arg unterschiedlich sind (vom Mittelstandskind aus Syrien, das fließend Englisch spricht und die latein. Schrift beherrscht, bis hin zur Kurdin vom Land, die, wie ihre Eltern auch, nicht alphabetisiert ist).
Und ich denke:
Oh, Klasse, man sieht das Problem und zeigt auf, dass man für die nötigen "individuellen Rezepte" mehr Personal und Geld für versch. Material braucht.
DENKSTE
Die Autorinnen des Artikels sind Hochschullehrerinnen. Da hätte mir schon dämmern können, wieviel Praxisnähe ich erwarten kann.
Tatsächlich enthält der Artikel zu 2/3 Binsenweisheiten, die schon längst bekannt sind, und die wir ja auch längst beherzigen (Immersion führt zu schnellerem Spracherwerb, Zugang zu muttersprachlichen Kontakten, muttersprachl. Unterricht usw.).
Dann aber kommt der Hammer:
Im letzten Absatz steht da: "Nicht nur Prof. Dr. Dr. Ingrid Gogolin ... fordert deshalb: Institutionen sollten ihren monolingualen Habitus ablegen. Würde sich das Bildungssystem mehrsprachigen Erwerbswegen deutlich mehr öffnen und Migrant*innensprachen mehr Beachtung in Lernprozessen geschenkt werden, würden ... mehrsprachiger Unterricht, mehrsprachige Pädagog*innen deutlich mehr gefördert, könnten Kinder ihren Sprachkompetenzen gemäß angemessener betreut, begleitet und unterrichtet werden." (Hervorhebungen von mir)
Um jetzt nicht falsch verstanden zu werden: In der Sache ist das völlig richtig! (Und im Übrigen gar nicht neu.)
ABER: Der Ton macht die Musik. So, wie das formuliert ist (siehe meine Hervorhebungen), stößt mich das vor den Kopf. Das klingt, als wollten wir nicht. Wenn wir nur wollen würden, dann ginge das.
WIR WOLLEN! Indes, es geht nicht.
Wir suchen schon lange händeringend Lehrkräfte mit muttersprachlichen Kompetenzen in Arabisch, Türkisch, Kurdisch. Indes: Wir finden keine. Der Markt ist leer. Und wir liegen auf der allzu beliebten Rheinschiene.
Ich würde in meinem Deutschunterricht sehr gerne die Muttersprachen der Kinder meiner Klasse hinzuziehen, gerade wenn ich Grammatikeinheiten habe. Indes: Es sind sieben verschiedene. Und: Ich beherrsche keine davon. Ich kann kein: Russisch, Arabisch, Berberisch, Tschechisch, Albanisch, Kurdisch, Tamilisch, und nur ganz wenig Türkisch. Wie viele Kollegen bräuchte ich, um all diesen Herkunftssprachen "Beachtung zu schenken"?
Und ich kenne so manche Schule in migrantisch geprägten Stadtteilen einer rheinischen Großstadt, die eine sprachlich recht homogene Schülerschaft hat, an der der Herkunftssprache schon seit Jahrzehnten große "Beachtung geschenkt" wird.
Was also soll dieser anklagende Ton, der sich an Lehrkräfte wendet, in einer Gewerkschaftszeitung?
Ja, glauben denn die Chefredakteure, wir wüssten nicht, was wir brauchen?
Es liegt nicht am mangelnden Willen unsererseits. Es liegt an den Umständen, dass sehr schnell sehr viele Migrantenkinder hinzugekommen sind, auf deren Sprachen wir nicht vorbereitet waren, es liegt daran, dass der Integrationserfolg der letzten 50 Jahre so dermaßen bescheiden war, dass Mangel an Akademikern mit Migrationshintergrund herrscht, und nicht zuletzt an der Landesregierung, die nicht bereit ist, dem Bildungsbereich das nötige Geld zur Verfügung zu stellen.
DAS sollte in einer Gewerkschaftszeitung stehen.
Die Integration von Flüchtlingskindern erfordert einen hohen Organisationsaufwand, für den wir keinerlei Unterstützung bekommen. Wir müssen Dolmetscher selbst organisieren, wir kaufen Material aus eigener Tasche, wir bekommen keine Entlastungsstunden für die aufwändige Koordination mit DaZ-Kollegen, Familienhelfern und Schulpsychologen. Die Flüchtlingskinder werden in den Klassenteiler nicht eingerechnet.
DAS sollte in einer Gewerkschaftszeitung stehen.