Deutschland hat in der letzten Pisa- Untersuchung im oberen Bereich überhaupt nicht „abgelost“, sondern hat insgesamt betrachtet die Befunde der letzten Jahre verfestigt. Es passiert zu wenig im unteren Bereich an Förderung und Unterstützung, sei es an den GSen, sei es im weiterführenden Bereich. Ansonsten sind die mal wieder x% an SuS, die nicht die Mindestanforderungen erreichen, nicht erklärbar. Gesellschaftlich können wir uns das nicht erlauben, weil niemand mehr Tankwarte usw. braucht, d.h. Berufsfelder mit minimalen Anforderungen immer weniger vorhanden sind bzw. mit Ressourcen, die zunehmend weiter östlich rekrutiert werden, dafür eingesetzt werden.
Die Eliten machen das schon, schön kaserniert für sich, auch wenn sich ab und zu mal ein paar Querschläger einmischen. Der Rest bitte nicht stören.
Die Befunde legen nah, und zwar seitdem sie erhoben werden, dass sich an der sozialen Kopplung von Herkunft und Bildungsabschlüssen etwas ändern muss. Das geht nur durch längeres gemeinsames Lernen und massiven Ausbau der Unterstützungssysteme für alle Schulen.
Gesamtschulen haben - wie alle anderen Schulsysteme auch - Vor- und Nachteile. Wie man über sie urteilt, hängt davon ab, wie man diese für sich persönlich gewichtet.
Nachteile:
- Sehr hoher Arbeitsaufwand für Lehrkräfte beim derzeitigen Stellenschlüssel, weil wir alles leisten müssen: Wir sind Haupt-, Real-, Sonderschul- und Gymnasiallehrer in jeder einzelnen Lerngruppe. Die frühe äußere Differenzierung ist nach und nach dem Landessparschwein zum Opfer gefallen. Wenn man diese Aufgabe ernst nimmt, verzweifelt man daran, denn entweder spart man an den Schülern oder an sich selbst, und beides fühlt sich nicht gut an. (Von der Ausbeutung der SekII-Lehrkräfte ganz zu schweigen, die daneben auch noch Abiturprüfungen und Klausurstapel bestreiten müssen.)
- Schwache Grundschüler kommen an eine weiterführende Schule, an der sie wieder die Schwachen sind. Sie werden weiterhin an den gymnasialen Kindern gemessen. Erfolgserlebnisse in Bezug auf Noten: Fehlanzeige. So produziert man Schulmüdigkeit. An meiner Schule ringen wir seit Jahren um eine vernünftige Lösung für das Problem, aber rechtlich ist es kaum anders möglich, weil Eltern aus Noten Ansprüche ableiten können: Also: Wenn ich einem G-Kursschüler, von dem ich sicher weiß, dass er im E-Kurs unterginge, ein "gut" auf dem Zeugnis gebe, weil er auf seinem G-Kursniveau ganz ordentlich arbeitet, kommen die Eltern sofort mit dem Anspruch, das Kind in den E-Kurs hochzustufen. (Logisch: Davon hängen schließlich Abschlüsse ab.) Also bin ich - im Interesse des Schülers - gezwungen, ihn nicht besser als "befriedigend" zu bewerten. An einer Hauptschule hätte er dagegen super Noten, was seinem Selbstbewusstsein sehr zuträglich wäre.
- Inklusion findet in NRW an Gymnasien nur noch in homöopatischen Dosen statt, so dass Gesamtschulen diese alleine stemmen müssen, bei miesem Stellenschlüssel und leer laufenden Stellenausschreibungen für Sonderpädagogik, weil der Markt leer ist. Doppelbesetzung wird in den kommenden Jahren nur noch eine dunkle Erinnerung sein.
Vorteile:
- Man hat ein Schuldorf. Alle lernen gemeinsam, kennen sich gut und respektieren sich: Wenn also der Rechtsanwalt mal einen Handwerker braucht, dann könnte das ein ehemaliger Mitschüler sein. Aber auch wenn nicht: Er kennt Leute wie ihn, er hat als Kind mit ihnen gespielt und gelernt. Er weiß um dessen Qualitäten, weil er dereinst in der Schülerfirma aktiv war und dort Beeindruckendes geleistet hat. Entscheidungsträger sind nicht in einer Blase aufgewachsen, die ihnen den Blick auf andere soziale Schichten verwehrt.
- Die frühe Selektion setzt schon Grundschüler und deren Eltern unter enormen Druck. Das lässt sich so vermeiden.
- Die Empfehlungen der Grundschulen erweisen sich häufig als unzutreffend.
- Die Leistungsdifferenzierung erlaubt es Kindern, die Teilleistungsschwächen haben, in dem schwachen Fach auf ihrem Niveau zu lernen und dadurch den Anschluss zu behalten und die Motivation zu behalten.
- An Gesamtschulen wird der Blick stärker auf das ganze Kind gerichtet. Es ist dort mehr als die Summe seiner Leistungen.
- Wenn ein Kind wegen privater Krisen einen Leistungsabfall erleidet, muss es nicht auch noch um seinen Verbleib an der Schule fürchten. Es kann sich in Ruhe wieder stabilisieren.
- Die Schullaufbahn ist weniger "geschlossen". Man kann an Gesamtschulen den klassischen gymasialen Durchlauf machen: 2. FS in Klasse 6 als Hauptfach starten, 3. FS in Klasse 8 hinzunehmen und alle differenzierten Fächer in E-Kursen durchlaufen. Dann hat man eine dem Gymnasium sehr ähnliche Bildung erhalten. Man kann aber auch "kreativer" darangehen: Keine 2. FS in WP I sondern, weil das Interesse so groß ist: Hauswirtschaft. 2. FS dann in Klasse 8. Oder: NW in WP I und die 2. FS erst in der EF. Das machen bei uns auch Kinder, die definitiv gymnasial sind. Einfach, weil sie Spaß daran haben und sich nicht in ein Prestige-Korsett pressen lassen wollen.
Je nach Standort kommen verschiedene Aspekte hinzu. Schulen in sozialen Brennpunkten kämpfen vermehrt mit Armut und Gewalt. Schulen an bürgerlichen oder dörflichen Standorten eher mit emotionaler Verwahrlosung und psychischen Problemen der Schüler.
Der Erfolg von Gesamtschulen hängt stark von ihren Bedingungen ab: Mit der richtigen Leistungsmischung, einem guten Stellenschlüssel und regelmäßiger Doppelbesetzung in Binnendifferenzierung oder kleinen Lerngruppen in äußerer Differenzierung und mit einem guten multiprofessionellen Team aus Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und Schulpsychologen lassen sich beachtliche Erfolge erzielen. Erst recht an einem guten Standort. Das weiß ich, weil meine Schule all diese Bedingungen schon einmal hatte und in dieser Zeit - sehr zu recht - mit Preisen förmlich überschüttet wurde. Schade, dass das heute keinen Bildungspolitiker mehr interessiert.
Allein gelassen mit regelmäßig nur einer Lehrkraft für eine extrem heterogene Klasse mit 30 SuS ohne Unterstützungsmöglichkeiten für Schüler mit Lern- und/oder Verhaltensproblemen werden sich die Erfolge in Grenzen halten und an problematischen Standorten vermutlich ganz ausbleiben.