Hallo Frau Esspunkt,
es wundert nicht, dass Neles inzwischen sechs Jahre alter Beitrag noch immer keinen Staub angesetzt hat. Seine Ratschläge für den
Selbstschutz sind in der Tat Gold wert. Ich möchte aber zu zweien seiner Punkte ein paar Anmerkungen machen, die allerdings für mich
zusammenhängen.
Ich fange mal beim Punkt 12 an. Nein, ich war nie ein Verbandsvorsitzender, der sich praxisfern über unrealistische
Vorstellungen ausgelassen hat. Ich habe 34 Jahre an bayerischen Realschulen unterrichtet (E/G, u.a.), hatte bis zu meinem letzten
„Diensttag“ immer eine Klassleitung, war bis zu meinem letzten Schultag gerne im Dienst und – der Beruf war für mich mein
Traumberuf. Na ja, schön für dich mag jetzt einer sagen, aber ich denke, da gab es etwas, was einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet
hat. Das hängt nun auch mit Neles 1. Punkt zusammen. Ich stimme mit ihm völlig überein, dass auch unser Beruf als Job zu sehen ist. Ich
bin aber der Meinung, dass dies nur die eine Seite der Medaille zu unserem Selbstschutz oder Broterwerb ist. Was die zweite Seite
betrifft, muss ich ein wenig ausholen.
Ich finde, es ist ganz wichtig, dass ich als LehrerIn neben meinen fachspezifischen Interessen, meiner Freude am Erklären, meiner Liebe
zu Kindern, den relativen Freiheiten bei meiner Zeiteinteilung etc. persönliche Motivationsfaktoren in mir habe, die mich für etwas
"brennen" (aber nicht verbrennen) lassen – welche dies sind, mag jeder für sich entscheiden. Dazu möchte ich sagen, was
mich umgetrieben hat und es noch tut:
- Möchte ich mich abfinden mit den gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Gegebenheiten,
und nehme ich es hin, dass meine Schülerinnen und Schüler weiter den, ich sage etwas provozierend, Weg der Lemminge über die
Klippe gehen? Braucht es viel Phantasie, um zu sehen, wie uns der Wachstumsfetischismus unserer Eliten bei
einer gleichzeitig immer dünner werdenden Ressourcendecke und rasant zunehmenden Weltbevölkerung
dem point of no return immer näher bringt?
- Können wir von den führenden Eliten erwarten, dass sie umsteuern oder bedarf es einer Erneuerung
unserer Gesellschaft über das Bildungssystem von unten, damit wir erst einmal die Menschen bekommen, die auf andere Gedanken
kommen können. Gedanken, die Nachhaltigkeit beinhalten, einen Erhalt der Schöpfung, ein Miteinander auf
nationaler und globaler Ebene; Menschen, für die die teilweise menschenverachtende Ausbeutung Ausdruck einer
außer Rand und Band geratenen Profitgier ist, aber auch eines Wirtschaftssystems, das in seinen
Zwängen ("Konkurrenzdruck") gefangen ist und der dringenden Reformen bedarf.
- Können wir hier nicht versuchen, im Rahmen unserer Stoffpläne dort, wo es möglich ist, Schwerpunkte
zu setzen und neben der naturgegebenen Freude an unseren Fächern eine tiefe Sinnhaftigkeit
in unserer Arbeit sehen? Burn-out – nein danke!
Natürlich kann uns hierbei der deprimierende Gedanke kommen, dass wir alleine doch garnichts bewirken können.
Aber: Wir sind nicht allein (z.B. NGOs, Protestpotential in der Bevölkerung)! Unsere Schülerinnen und
Schüler sind Multiplikatoren! Die Kräfte des Wandels können immer stärker werden! Dazu noch etwas Tröstliches
nach Martin Buber:
Rabbi Sussja fühlte sein Ende kommen und sagte: "Was wird mich der Herr fragen, wenn ich vor Ihm stehe?
Wird Er mich fragen 'Warum bist du nicht König Salomo gewesen? Warum bist du
nicht Mose gewesen?' Nein! Er wird mich fragen "Warum bist du nicht Sussja gewesen?"
Mehr müssen wir nicht leisten: Das zu tun, was wir dort, wo wir stehen, tun können.
Ziel unseres Weges könnte dabei sein, Begleiter junger Menschen zu werden, denen wir über den persönlichen Umgang
miteinander oder bestimmte Inhalte bei der gemeinsamen Arbeit im Unterricht Perspektiven für ein Leben eröffnen können,
in dem der Versuch gewagt wird, seinen kleinen aber feinen Beitrag zum Erhalt der Schöpfung leisten und zu einem
fairen Miteinander im Kleinen wie im globalen Großen zu gelangen. Zielsetzungen wie diese sind überparteilich, von
fundamentaler Bedeutung und ideologiefrei. Ich bin so frei zu sagen, dass mich dieses "Brennen" auch durch schwere
persönliche Schwierigkeiten getragen hat.
Um im Lehrberuf letztlich bestehen zu können, brauchen wir allerdings auch das richtige "Handwerkszeug",
um von der ersten Stunde an Kinder und Jugendliche für die gemeinsamen Aufgaben zu gewinnen, eine
tragfähige, vertrauensvolle aber auch durchaus leistungsbezogene Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern
aufzubauen. Dabei geht es nicht nur um einen respektvollen Umgang miteinander, der gegenseitige Fairness
einfordert, sondern auch schon um die kleinen Dinge des Alltags, die uns häufig nerven können wie beispielsweise
um die Art des Sich-Meldens. Es geht auch darum, Schülern alle möglichen Ängste zu nehmen, dass sie z. B. Fehler machen
dürfen, dass sie sich trauen dürfen, etwas zu sagen, ohne zu fürchten, ausgelacht zu werden, schlüssig und altersgemäß
zu begründen, was im Alltag sinnvoll ist (z.B. Hausaufgaben), Lernhilfen für bestimmte Fächer anzubieten
(z. B. das Lernen von Vokabeln) und dabei Optimismus für den Lernerfolg zu verbreiten.
Es geht aber auch darum, die Sinnhaftigkeit der Arbeit in unseren Fächern den Schülerinnen und Schülern
nahezubringen. Warum beschäftigen wir uns "mit dem alten Käse" in Geschichte, Erdkunde wird oft
im Schülerjargon zu "Erdkas", was soll dieses "Bio" oder "Reli"? Eine derartige Auseinandersetzung mit den
Schülern ist geeignet, bei ihnen eine Motivation zu erzeugen, die sich deutlich davon unterscheidet vom kommentarlosen
Start ins Schuljahr mit dem "neuen Stoff", der ja nicht unbedingt per se Motivationscharakter hat.
Letztlich sollen alle im Klassenzimmer wissen: Da ist jemand, der meint es gut mit mir, der lässt sich aber auch nicht
ver... und der will und kann mir was beibringen, was mir auch später weiterhilft.
Ein derartiges Betriebsklima und eine individuelle intrinsische Motivation sind m.E. neben all den auf dieser Seite genannten
Hilfen wesentliche Voraussetzungen, um in der Schule Mensch bleiben zu können.
Zum Schluss noch ein kleines „Schmankerl“:
In einer Dokumentation des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) mit dem Titel:
„200 Entscheidungen pro Stunde – Lehrerarbeit im Spannungsfeld von Idealismus und Belastung“
(Edgar Schmitz, Institut fur Psychologie und Erziehungswissenschaften, 2004), ist auf Seite 66 f.
über Stressfolgen und Stressbewaltigung unter Lehrerinnen und Lehrern zu lesen:
„Folgende Belastungsfaktoren sind ... gut belegt ... :
- allgemein: zu hohe, zunehmend berufliche Anforderungen durch immer neue Aufgaben
- zu viele Verwaltungsaufgaben (Zeitdruck)
- Probleme mit Schulleitung, Schulaufsicht und Behörden (fehlende Ausbildung der Schulleiter
in Personalführung, Teamgeist) ...
-Rollenkonflikte zwischen Kollegen ...
-Mangel an Rückmeldung, an Anerkennung ...
Unter diesen Belastungsfaktoren haben sich vergleichsweise als ganz besonders schwerwiegend erwiesen:
das Schülerverhalten ... und das Verhalten bzw. der Führungsstil der Schulleitungen. Relativ zu diesen Faktoren
treten die Belastungen durch die Anzahl der Arbeitsstunden und der Klassengröße deutlich zurück ...“
Dass das Verhalten von Schülern zu den Stressoren erster Klasse zahlt – dazu bedurfte es bestimmt
keiner besonderen Untersuchungen, dass aber die Schulleitungen mit diesen statistisch gleichziehen,
ja nach einer Befragung von früh- und alterspensionierten Lehrkraften in Rheinland- Pfalz
unter Ersteren sogar an der Spitze liegen, ist allerdings ein erstaunliches Faktum. (ebd. S. 81, Beitrag
von Helmut Heyse, Aufsichts- und Dienstleistungs-Direktion Rheinland-Pfalz, Projekt Lehrergesundheit).
Da kann man nur sagen: LehrerInnen aller Klassen wehrt euch!
Alles Gute von
Curt