Heil, mein Führer!
Ich gebe hier zwei psychologische Reflexhandlungen zu bedenken:
1. Versuchen Schüler nachweisbarermaßen, Leiden bei einem überautoritären Lehrer nachträglich mit Sinn zu erfüllen, ähnlich wie bei Feldwebeln, Stockholm Syndrom etc ("Er hat was aus mir gemacht.") Mit dem tatsächlich erreichten Lernerfolg hat das nichts zu tun, sondern mit notwendigen psychologischen Schutzbehauptungen.
2. Schon bei Watzlawick als "The fatal glass of beer" beschrieben, gibt es eine Neigung, die Schuld für gegenwärtiges eigenes Versagen in der Vergangenheit zu suchen und da am liebsten jemand anderem aufzubürden - Eltern oder Lehrer sind dafür wunderbare Kandidaten. "Ihr habt mich nicht dazu gezwungen!" kann stimmen - kann aber auch die letzte Verteidigungslinie von jemandem sein, der es nie für nötig gehalten hat, die eigene Vernunft einzusetzen.
Nach diesen Aufwärmübungen:
Wie kommst du zu dem Bild, an der Schule würden Kinder nicht ans Lernen herangeführt, keine Ansprüche gestellt, keine disziplinarischen Maßnahmen eingesetzt, keine Leistung gefordert? Egal, mit welcher Methode erarbeitet - in der Klassenarbeit müssen Stoff und Fähigkeiten sitzen, bei den Lernstandserhebungen sowieso, im Abi erst recht. Jeder Schüler erhält pro Hauptfach mindestens 4x im Jahr eine kleine (Klassenarbeit), 2x im Jahr eine große Rückmeldung (Zeugnisse), durchaus verbunden mit dem Zwang, die Schule verlassen zu müssen, wenn er nicht genug getan hat. Auf Elternsprechtagen erhalten die Eltern ebenfalls Feedback. Immer noch zu viele Kollegen brüllen gern mal einen Schüler vor versammelter Mannschaft zusammen, ob er den wohl bei der Müllabfuhr enden möchte. In der Nachmittagsbetreuung/ Nacharbeitsphase wird dafür gesorgt, dass nicht gemachte Hausaufgaben nachgearbeitet werden. Wer sein Kaugummi auf den Boden schmeißt, räumt den Schulhof auf. Was willst du eigentlich noch? Mir fehlt noch die Führung zum Lernen selbst.
Passt amüsanterweise zu der Nebendiskussion über zuviele Kopien: Gerade junge Lehrer nehmen das Thema "Das Lernen lernen" sehr ernst und führen ihre Schüler nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch an das selbstständige Üben und Erweitern heran - mit allem Zusatzmaterial, was eben dazu gehört. Was hier als "Selbstverwirklichung" verunglimpft wird, ist schlicht Methodeneinsatz nach abgesicherten Erkenntnissen und Führung zu dem, worauf es in der Schule eigentlich ankommt - die eigene Lernfähigkeit ebenso wie das eigene Wissen auszubauen.
*g* Aber früher war ja alles besser.... das Interessante ist, dass diese Methoden so neu nicht sind. Liest man sich die Erziehung der Adelskinder in der Antike und Renaissance durch, kommt keineswegs hauptsächlich der Rohrstock, sondern eben das gemeinsam Experimentieren, auf Reisen gehen, in Bibliotheken stöbern, mit Austauschsklaven und -prinzessinnen parlieren zum Einsatz. Das schwerpunktmäßige Dreschen mit dem Rohrstock und hirnloses Pauken waren immer hauptsächlich für die blöden Proletarier und mittelständischen Emporkömmlinge gedacht (englische Internate einmal ausgenommen, aber was dabei rauskommt, sieht man am englischen Königshaus), perfektioniert von den Preußen, in glattem Übergang ausnutzbar durch die Bildungsfeindlichkeit der Nazis. Ich hole die Dritte-Reichs-Keule normalerweise selten hervor, aber in diesem Fall lässt sie sich belegen.
Iche hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Mensch überflüssiges Arbeiten gern vermeidet. Ist schon richtig - während er Stunden um Stunden mit Sudokus und Computerspielen verbringen kann, wöchentlich mehrmals sinnlos einem Ball hinterherläuft, sich Tag und Nacht in Büchern verbuddeln und nachher jedem, der's nicht hören will, etwas über die Porzellankunst der Ming-Dynastie erzählen wird... will sagen, gegen die natürliche Schwerkraft des Geistes steht der natürliche Wachstumsdrang: Interesse, Neugier, Sapß am eigenen Wissen usw. Schule wird niemals allein darauf aufbauen können, aber sie versucht viergleisig zu arbeiten:
1. Eine Grundeinstellung zu festigen, dass Wissen und Können erstens möglich und zweitens höchst befriedigend sind. Nach der Schule sagt dir niemand mehr, wann du dich wo wie weiterzubilden hast (es sei denn, du wirst vom Arbeitsamt geschickt, und das bringt nix) - die Leute, die freiwillig und mit Spaß abends noch den New Scientist lesen, haben deutlich größere Chancen als die, für die Englisch und Lesen immer nur "würg" war.
2. Basiswissen zu vermitteln, das die Grundfähigkeiten und -zusammenhänge absichert und anschlussfähig ist zur Spezialisierung. Gerade das klappt im Moment an etlichen Hauptschulen nicht mehr, die Zahl der Leute ohne Abschluss ist viel zu hoch - aber irgendwie habe ich nicht den Eindruck, dass das gerade hier Diskussionsthema ist.
3. Methoden zu vermitteln, mit denen auch uninteressante, aber notwendige Dinge effektiv gelernt werden können. Die Spielfreude und den Konkurrenzdrang von Kindern nicht hin und wieder beim Vokabelfußball zu nutzen, sondern auf trockenes Abfragen zu bestehen (weil das Lernen ja dann weher tut), scheint mir in etwa so intelligent wie das traditionelle chinesische Fußeinschnüren. Eine Lernlandkarte zu malen dauert etwas länger als eine Stichwortliste - aber es bleibt hängen.
4. Nach und nach die Fähigkeit zu vermitteln, zwischen Notwendigem und nicht Notwendigem zu unterscheiden - und hier ist die Schule am meisten gefordert und mit sich selbst am uneinigsten, aber bislang war DAS noch nie hier Debatte. Die Sehnsucht nach dem traditionellen Bildungsbürger ist verständlich, aber es gibt den Universalgelehrten nicht mehr, und vielleicht hat es ihn immer nur in einem sehr kleinen, selbstfixierten, elitären Zirkel gegeben. "Was man wissen muss" ist heiß umkämpftes kulturelles Minenfeld - ich kann meinen Schülern nur meine auf dem Lehrplan basierende Version davon mitgeben und mit ihnen erarbeiten, wie man für sich selsbt entscheiden kann, was man wissen muss. Aber das ist eine andere Debatte.
So, mit diesem Zettel in der Hand würde ich gern noch einmal wissen, was das denn alles mit Selbstverwirklichung und Führungsqualitäten zu tun hat. Und von welchen Lehrern, welchem Bundesland, welchen Schulformen hier eigentlich geredet wird.
w.