Laut Goethe ist die Ballade das "Ur-Ei" der Dichtung, weil eben Lyrik, Epik und Dramatik darin vereint sind. Als Arbeitsdefinition reicht aber die "gedichtete Geschichte" - im Gegensatz zu anderen Lyrikformen, die einen Gegenstand oder eine Empfindung schildern bzw. der Subjektivität des lyrischen Ich Ausdruck geben, erzählen Balladen eine Geschichte, also eine epische Form, mit Held, Handlung, Höhepunkt usw. Das Dramatische zeigt sich z.B. darin, dass Wortwechsel in direkter Rede wiedergegeben werden, es oft zu Konfrontationen zwischen Figuren kommt (deshalb lassen sie sich wunderbar nachspielen) usw. Die Lyrik kommt in Reimen, aber auch in der Verwendung von bildlichen Stilmitteln, Klangspielereien usw. zum Ausdruck.
Das Wort selbst heißt so viel wie "Tanzlied" und kommt ursprünglich aus dem Italienischen. Auch wenn "Zauber und Unheimliches" überhaupt nicht zwingend sind für Balladen, haben sie einen Hang zum Schauerlichen. Sie sind eng mit den Moritaten verwandt, also den schauerlich-grausamen moralischen Mordgeschichten, die früher zu Bilderbögen auf den Jahrmärkten vorgetragen wurden.
Kästner spielt m.E. mit unserem Konzept von Ballade als das, was alte, vorhersagbare und ewig wahre Geschichten von Schauer und Tod wiedergibt. Während die "klassische" Ballade aber eben den Täter als den moralisch Bösen bzw. den Tod als schicksalhaftes, von dunklen Mächten kontrolliertes Ereignis darstellt (z. B. Erlkönig, Lore Lay, Der Knabe im Moor), deckt Kästner die soziale Gebundenheit von Grausamkeit auf. Kinder, die andere Kinder umbringen, sind der Stoff für Moritaten und Balladen - dies allerdings als Ergebnis der gesellschaftlichen Verhältnisse darzustellen, ist pure Moderne und sehr typisch Kästner. Bei Brecht findet sich z.T. ähnliches, nachher bei Wolf Biermann und der ganzen Liedermacherbewegung.
Und weil mir grad danach ist, eine von meinen Lieblingen:
Bertolt Brecht: Apfelböck oder: Die Lilie auf dem Felde
Im milden Lichte Jakob Apfelböck
Erschlug den Vater und die Mutter sein
Und schloß sie beide in den Wäscheschrank
Und blieb im Hause übrig, er allein.
Es schwammen Wolken unterm Himmel hin
Und um sein Haus ging mild der Sommerwind
Und in dem Hause saß er selber drin
Vor sieben Tagen war er noch ein Kind.
Die Tage gingen und die Nacht ging auch
Und nichts war anders außer mancherlei
Bei seinen Eltern Jakob Apfelböck
Wartete einfach, komme was es sei.
Und als die Leichen rochen aus dem Spind
Da kaufte Jakob eine Azalee
Und Jakob Apfelböck, das arme Kind
Schlief von dem Tag an auf dem Kanapee.
Es bringt die Milchfrau noch die Milch ins Haus
Gerahmte Buttermilch, süß, fett und kühl.
Was er nicht trinkt, das schüttet Jakob aus
Denn Jakob Apfelböck trinkt nicht mehr viel.
Es bringt der Zeitungsmann die Zeitung noch
mit schwerem Tritt ins Haus beim Abendlicht
Und wirft sie scheppernd in das Kastenloch
Doch Jakob Apfelböck, der liest sie nicht.
Und als die Leichen rochen durch das Haus
Da weinte Jakob und ward krank davon.
Und Jakob Apfelböck zog weinend aus
Und schlief von nun an nur auf dem Balkon.
Es sprach der Zeitungsmann, der täglich kam:
Was riecht hier so? Ich rieche doch Gestank.
Im milden Licht sprach Jakob Apfelböck:
Es ist die Wäsche in dem Wäscheschrank.
Es sprach die Milchfrau einst, die täglich kam:
Was riecht hier so? Es riecht, als wenn man stirbt!
In mildem Licht sprach Jakob Apfelböck:
Es ist das Kalbfleisch, das im Schrank verdirbt.
Und als sie einstens in den Schrank ihm sahn
Stand Jakob Apfelböck in mildem Licht
Und als sie fragten, warum er's getan
Sprach Jakob Apfelböck: Ich weiß es nicht.
Die Milchfrau aber sprach am Tag danach:
Ob wohl das Kind einmal, früh oder spät
Ob Jakob Apfelböck wohl einmal noch
Zum Grabe seiner armen Eltern geht?
Wer Spaß mit Souialkritik haben möchte, google einmal nach der "Ballade von der unverhofften lLast", ich krieg sie gerade nciht rüberkopiert.
Mit balladiösen Grüßen
w.