Beiträge von XYZ

    Erst gestern habe ich das Inklusionstagebuch an dieser Stelle entdeckt und mit großem Interesse gelesen!
    Ich selber hätte bereits vor fast 30 Jahren ein Tagebuch mit ähnlichem Inhalt zu schreiben beginnen können, habe ich aber nicht und finde deshalb diese Idee genial! Meins wäre allerdings "Integrationstagebuch" geworden über die Arbeit mit lern- und entwicklungsgestörten Kindern in Grundschulen und nicht in einer Sek. I Schule. Der Unterschied bestand auch darin, dass ich mich freiwillig im Rahmen von Schulversuchen auf diese Arbeit eingelassen und sie mehr als 20 Jahre lang unter wechselnden Bedingungen, aber zunächst voller Idealismus, durchgeführt habe.
    Inzwischen ist mein Idealismus der bitteren Realität gewichen ... viele Inhalte des Inklusionstagebuchs kann ich aus meiner Erfahrung unterschreiben, denn es hat sich im Laufe der Jahrzehnte nicht viel an den Bedingungen geändert!


    Was bleibt nach meinen Erfahrungen zu sagen?
    Schlicht und einfach: Jeder Schulversuch fand zu schlechteren Bedingungen statt, die personelle Ausstattung wurde stetig verschlechtert. Es wurde stets der Mangel verwaltet und gestaltet.
    Und: Die derzeitige Inklusion findet als absolutes Sparmodell und zu den denkbar schlechtesten Bedingungen statt!!!


    Dabei könnten die Politiker auf Erfahrungen aus Jahrzehnten zurückgreifen. In den Achtzigern hat es vielerorts in NRW Schulversuche zur Integration gegeben. Sie wurden vom Schulministerium in Düsseldorf beobachtet und ausgewertet, wobei sich die zuständigen Referenten sogar in die Versuchsschulen begaben, um mit den beteiligten Lehrkräften die Ergebnisse und Erfahrungen zu diskutieren. Auch ich hatte das "Vergnügen", an solchen Diskussionen beteiligt zu sein, war jedoch angesichts der Bedingungen beim nächsten Schulversuch schnell ernüchtert, weil man sich von den Ergebnissen nicht beirren ließ und die Bedingungen so veränderte, das man mit noch weniger Geld und Personal auskommen musste. Inzwischen vermute ich, das genau das der Hintergrund der Versuche war: Wie geht es noch billiger?


    Im Jahr 1995 durften, offensichtlich als Resultat der Schulversuche, behinderte Kinder offiziell in Regelschulen integrativ gefördert werden, allerdings zunächst nur in Grundschulen.
    Diese eigentlich erfreuliche und längst überfällige Gesetzeslage richtete jedoch bei vielen Kindern und Lehrern häufig mehr Schaden als Nutzen an, zäumte man doch das Pferd von hinten auf!


    Und jetzt sind wir bei den Gemeinsamkeiten aus den Erfahrungen von gestern und heute angekommen:

    • Kein Grundschullehrer war auf die Arbeit mit behinderten Kindern vorbereitet, sondern er wurde von heute auf morgen vor vollendete Tatsachen gestellt.
    • Kaum ein Sonderschullehrer war auf die Arbeit in Regelschulen vorbereitet, außer denjenigen, die dieses Lehramt mal vor dem SoPäd. Studium unterrichtet hatten.
    • Weder aus der einen noch aus der anderen Lehrergruppe wurde jemand gefragt, ob er mit behinderten Kindern im Rahmen des GU arbeiten wollte bzw. sich dazu in der Lage fühlte.
    • Die unfreiwillig "verdonnerten" Grundschullehrer waren oft zu keinerlei Zugeständnissen gegenüber den Integrationskindern und den Integrations-Sonderpädagogen bereit.
    • Nach dem Motto: "Fang einfach mal an!" wurde herumprobiert, wurden Schüler mal über- und mal unterfordert, mal in Förderschulen zurückgeschult, mal einfach "gesund geschrieben", weil es die Situation erforderte (z. B. beim Übergang in die Sek I., wo es damals noch keinen GU gab).
    • Das Angebot und die Qualität von Lehrerfortbildungen waren Glücksache und fanden erst NACH Einführung von GU statt.
    • Den Grundschullehrern war und ist z. T. bis heute der Unterschied zwischen zielgleicher und zieldifferenter Förderung bzw. Leistungsbewertung für die jeweiligen Schüler nicht bekannt oder in vielen Fällen auch nicht zu vermitteln. Manche hatten einfach Angst, den L-Kindern zu wenig beizubringen, weil diese Kinder mehr Zeit zum Lernen brauchten.
    • Die Schulträger stellten den Grundschulen kaum finanzielle Mittel und keine ausreichenden Räume für die Integrationsarbeit zur Verfügung.Es waren meistens keine Differenzierungsräume vorhanden. Ich selber habe gearbeitet in Küchen, Werkräumen, Büchereien, auf zugigen Dachböden, in Medienräumen, auf Fluren, in stundenweise unbesetzten Klassenräumen, im Winter mal mit, mal ohne, mal mit selbst mitgebrachter elektrischer Heizung und Stehlampe. Ständig habe ich Materialien hin und her geschleppt, musste oft alles in Kisten verpackt irgendwo lagern und vor und nach meinen Förderstunden aus- und wieder einpacken.
    • Ich unterrichtete meistens an zwei Grundschulen, war 2-3 mal wöchentlich für meine Schüler da. Von meinen nicht mehr vorhandenen Pausen (Pendeln oder Aufsicht) will ich gar nicht reden, denn ich erfuhr auf diese Weise, dass Pausen nur für Schüler da sind, Lehrer haben nach 2 Schulstunden noch kein Anrecht auf eine Pause.
    • Die Klassengröße für GU-Klassen war nicht auf eine Höchstgrenze festgelegt und variierte zwischen 18 und 30 Kindern.
    • Teilweise arbeiteten mehrere Sonderschullehrer in einer Klasse, weil eine Pro-Kopf-Zuteilung der Stunden / Kinder erfolgte und es Probleme bei den Abordnungen gab.
    • Teambesprechungen waren im Stundenplan nicht vorgesehen und fanden i. d. R. zwischen Tür und Angel oder telefonisch statt.
    • Sonderschullehrer wurden bei Bedarf zu Allroundern erklärt, die (fast) jede Behinderungsart zu fördern hatten.
    • Regelmäßig wurde ich "vergessen" und bekam keine Informationen, wenn z. B. die Klasse gerade auf Unterrichtsgang oder auf Sportveranstaltungen war, ein Theaterstück gucken durfte, Projektwoche war oder einfach so ("Ach, du bist ja heute da, ... !").
    • ...

    Ich könnte die Liste noch fortsetzen.
    Positiv erwähnen möchte ich, dass ich einige Grundschullehrerinnen erlebt habe, die unglaublich engagiert und interessiert an einer Zusammenarbeit mit mir waren. Wir haben viel voneinander gelernt!


    Große Veränderungen in der Schulentwicklung brauchen erfahrungsgemäß ca. 10-15 Jahre, bis sie aus den Kinderschuhen heraus sind. Die Grundschulen konnten inzwischen Erfahrungen sammeln und Veränderungen herbeiführen. Den GU gibt es seit 17 Jahren und in den Grundschulen hat sich vieles zum Positiven entwickelt. In unserem Reg. Bez. haben viele Grundschulen eigene Sonderpädagogen im Grundschulkapitel, die oft zwei bis drei Schulen versorgen müssen. Wochenplan, freie Arbeit, Projekt- und Werkstattarbeit mit entsprechenden Differenzierungsmaßnahmen sind vielerorts selbstverständlich. Trotzdem hakt es nach wie vor an vielen Stellen, insbesondere weil zu wenig Sonderpädagogenstunden zur Verfügung gestellt werden und weil die ausschließlich an Grundschule eingesetzten Förderlehrer keinen fachlichen Austausch untereinander haben. Sie werden oft direkt nach ihrer Ausbildung in Grundschulen eingesetzt und stehen mit ihren Fragen oft alleine auf verlorenem Posten da.


    Mit Einführung der Inklusion sind jetzt alle Schulen "dran". Ich habe das Gefühl, mit der Inklusion, insbesondere in vielen Schulen der Sek. I, fängt alles wieder bei Null an, so wie
    damals! Wieder wird "das Pferd von hinten aufgezäumt", wieder weiß keiner Bescheid, wieder gibt es zu wenig Stellen, zu wenig Geld, zu wenig Räume und - noch schlimmer - noch weniger Homogenität. Mir sträuben sich die Nackenhaare, wenn ich von Gymnasien höre, die GE- oder L-Kinder fördern sollen. Wer hat sich bloß solchen Blödsinn ausgedacht?


    Wieder wird es mindestens 10-15 Jahre dauern, bis Inklusion mit all ihren Folgen bei den meisten Beteiligten einigermaßen unfallfrei umgesetzt werden kann. Bis dahin werden viele Kinder als Versuchskaninchen auf der Strecke bleiben.
    Auch ein ganz wichtiger Bereich soll den Kindern im Rahmen der Inklusion gestrichen werden: die Frühförderung! Eingangsklassen für Kinder mit sprachlichen Entwicklungsstörungen sollen wegfallen. Oft genügten ein bis zwei Jahre Frühförderung in einer speziellen SQ-Klasse, um ein Kind weitgehend ungestört in der Grundschule weiter lernen zu lassen. Künftig besteht die Gefahr, dass viele dieser Kinder im 3. Schuljahr noch nicht lesen können werden, wie die heutigen Erfahrung bei "übersehenen" Sprachbehinderten in Grundschulen zeigen. So produziert man u. a. die Analphabeten von morgen.


    Ich habe inzwischen auch Erfahrungen an einer Gesamtschule im GU gemacht. Dort hatte ich das Glück, auf eine sehr kooperative Klassenlehrerin zu stoßen, aber das Pech, dass mein Stundenplan die Anwesenheit in nur einer Deutschstunde und einer Physikstunde zuließ.
    Physik!!! Da konnte ich das GU-Kind noch nicht mal zur Förderung herausnehmen, weil es nur 2 Wo-Std. in diesem Fach hatte, die es auch nicht versäumen durfte. Ich selber habe in dieser Physikstunde eine Menge gelernt, die erforderliche systematische Förderung in Deutsch und Mathe war nicht möglich bzw. sieht zumindest in meinen Augen anders aus!


    Frage: Wie organisiert man als Sonderpädagoge mit eigener Klasse in der Förderschule in dem unflexiblen Stundenplansystem einer Gesamtschule oder eines Gymnasiums die Förderung von Basisqualifikationen, wenn man zeitlich nur in naturwissenschaftlichen oder anderen Fachunterrichtsstunden (Musik, Kunst...) anwesend sein kann, in denen die erforderliche Förderung nicht möglich ist? Ich kenne Kollegen, die sagen: Setz ich mich einfach daneben und denk mir nichts dabei, ist ja nicht mein Problem.
    Das kann / will ich aber nicht ... !
    Wer hat Lösungsvorschläge?

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