Hat irgendjemand von euch Erfahrung mit Inklusion? Ich meine, ganz praktisch?
Ich hatte vor einigen Jahren die Gelegenheit in einer Hauptschulklasse 6 einen quasi-Inklusionsschüler betreuen zu "dürfen". Die Eltern hatten das Kind von der Förderschule kommend in die Regelschule "hineingeklagt". Der Junge hatte einige spezielle Fähigkeiten. Er war handwerklich sehr geschickt und konnte dem Unterricht intellektuell auch einigermaßen folgen, aber seine Schreib-, Lese- und Rechenfähigkeiten entsprachen denen eines Erstklässlers. Ausserdem war er nicht verhaltensauffällig. Obwohl das sicher relativ "leichte" Bedingungen waren hat es mir eigentlich schon gereicht! Allein schon die Vorbereitung des Unterrichts: Jedes Arbeitsblatt musste ich in zweifacher Ausfertigung gestalten für die "Normalos" und separat für den "Inklusionsschüler". Da es kaum möglich war "fertige" AB's auf seine Bedürfnisse umzuarbeiten war hier also auch für das "normale" AB Handarbeit angesagt. Mit den Schulbüchern habe ich in dieser Zeit so gut wie gar nicht gearbeitet, denn deren Niveau war viel zu hoch für ihn. Bei bestimmten Themen konnte ich ihn gar nicht mitnehmen: Einen Fachtext lesen und zusammenfassen? Bei den normalen Schülern schon schwer, bei ihm ein absolutes no-Go. Und was soll ich mit ihm bei einer Klassenarbeit machen? Eine mündliche Note ginge ja zur Not noch, aber schriftlich ...
Im Lauf der Zeit gab es einige wenige Verbesserungen (er bekommt keine Noten sondern eine ausführliche Bewertung in Textform; ausserdem sitzt fast ständig eine Betreuungsperson neben ihm, die ihm beim Lesen und schreiben hilft), aber das ist mMn pure Augenwischerei. Kein Lehrer in der Schule kann wirklich etwas mit ihm anfangen (ausser in Technik/Werken vielleicht). Keiner hat eine entsprechende Qualifikation. In meinem Fach (Biologie) ging es ja noch so gerade, in anderen Fächern (Deutsch, Englisch, Mathe) haben die Lehrer gar nicht erst angefangen ihn mitzunehmen, weil es einfach mit vertretbarem Aufwand nicht zu realisieren war. Und solange die öffentlichen Schulen zu altertümlichen Formen (Frontalunterricht, Klassenverbände, feste Stundeneinteilungen) verdonnert sind kann auch nichts wirklich passieren. Schon jetzt fallen viele der normalen Schüler aus diesem festen Raster heraus und jetzt soll man auch noch "Aliens" inkludieren.
Die Frage ist: tut man dem Kind damit einen Gefallen? Anfangs war er sehr motiviert und wurde in der Klasse auch gut aufgenommen. Aber bald merkte er selbst das er nicht mehr mitkam, zog sich von den Klassenkameraden weg und in sich zurück. Entsprechend abweisend reagierten die Mitschüler. Heute ist er weitgehend isoliert, sitzt teilnahmslos in der Klasse rum - aber die Eltern freuen sich: Er geht auf die Hauptschule - jahaha - was für ein Erfolg ...
Inklusion mag funktionieren, aber nicht solange Schulbehörden und die Politik die Schulen zwingen, an althergebrachten Formen festzuhalten. In offenen Schulformen mit Kurssystemen, Individualförderung, Selbstlernzeiten, etc. sowie entspr. Fachpersonal ist Inklusion sicher für alle Schüler eine Bereicherung. Aber davon muss ich wohl noch lange träumen ...