Hallo, Piksieben, deine Frage ist überhaupt nicht bescheuert, sondern sehr berechtigt. Darf ich ganz weit ausholen...? Wenn ich als ehemalige Vielschreiberin hier eh nicht mehr unterwegs bin... es ist merkwürdig, nach langer Zeit hier wieder was zu schreiben...
Weil mein Posting so lang ist, habe ich mal Zwischenüberschriften eingebaut.
Für die, die mich nicht kennen, eine Kurzvorstellung: Ich war mal Referendarin und habe nach einem Jahr abgebrochen. Seither arbeite ich in der Wissenschaft voriwgend zum Thema Behinderung.
Ich wurde auf diesen Thread aufmerksam gemacht, weil ich - ganz unbescheiden gesagt - Expertin bei diesem Thema bin, als "behinderte Frau" oder "Frau mit Behinderung", die Sonderpädagogik studiert hat, ein Jahr Referandariat in einem Förderzentrum gemacht hat (und dann abgebrochen) und sich seither beruflich wie privat mit Disability Studies (frei übersetzt: Forschung und Lehre über das Behindert-Werden von Menschen) auseinandersetzt, behindertenpolitisch aktiv ist und viele verschiedene behinderte Menschen sowohl privat als auch beruflich kennt.
Ich freue mich sehr, dass es hier einige so reflektierte Gedanken gibt, die den Nagel auf den Kopf treffen. Ich fange mal mit der Ausgangsfrage an und hole weiter aus.
Bezeichnungen: "Behinderte Menschen" - "Menschen mit Behinderung" - "Behinderte" - Menschen mit Handicap"
Wie Meike schon schreibt, gibt es nicht mal unter behinderten Menschen Einigung, welche Bezeichnung angemessen ist. Die gängigsten Bezeichungen sind "behinderte Menschen" und "Menschen mit Behinderung", die von der Mehrheit der direkt betroffenen Menschen auch verwendet wird. Aber ganz egal, welchen der beiden Begriffe ihr verwendet, einige werden sich immer falsch bezeichnet fühlen. Ich bevorzuge "behinderte Menschen" - Grund siehe unten.
Behindertenaktivisten, die sich wissenschaftlich mit dem Thema auseinandersetzen, bevorzugen den Begriff "behinderte Menschen", weil sie davon ausgehen, dass jene nicht von Natur aus behindert sind, sondern durch Barrieren und Vorurteile behindert werden. Wäre beispielsweise die ganze Welt rollstuhlgerecht gebaut, wären Menschen im Rollstuhl nicht mehr behindert. Genau aus diesem Grund lehnen viele von ihnen die Bezeichnung "Menschen mit Behinderungen" ab, weil sie beinhaltet, als würde der Mensch seine Behinderung wie einen Rucksack mit sich tragen. Aber andere wiederum lehnen die Bezeichnung "behinderte Menschen" ab aus dem Grund, den CKR auch nannte.
Was überhaupt nicht geht, ist die Bezeichnung "Behinderte" als Substantiv, weil der Mensch dadurch komplett auf die Behinderung reduziert wird und das negativ konnotiert ist. Das ist auch der Unterschied zum harmlosen Begriff "Mann" oder "Autofahrer". Plattenspieler hat das kurz und bündig und sehr gut begründet.
Manche Menschen - leider auch behinderte - bezeichnen sich als "Menschen mit Handicap" oder "gehandicappte Menschen". Für die oben genannten kritischen Behindertenwissenschaftler ist diese Bezeichnung ein no go. Es wird vermutet, dass "Handicap" in Verbindung mit "cap in hand" (Kappe in der Hand) steht, was eine Umschreibung für Betteln ist. Daneben gibt es das Argument, dass Handicap aus dem Sport (Golf und Pferderennen) kommt.
"Wie behindert ist das denn?!" - "behindert" als Schimpfwort
Der Ausruf "Wie behindert ist das denn?!" oder "Das ist ja voll behindert" wird aus behindertenwissenschaftlicher Sicht auch sehr kritisch betrachtet, eben weil es negativ konnotiert ist und davon ausgegangen wird, dass Sprache unser Denken beeinflusst. Genauso kritisieren homosexuelle Menschen den Ausruf "Das ist ja voll schwul." Ich finde es super, wenn einige von euch Ausrufe dieser Art anmahnen. Wer viel Zeit hat, kann zum Einfluss der Sprache auf unser Denken im Zusammenhang mit der Behindertenthematik hier einen schönen Artikel vom Behindertenpolitiker Dr. Peter Radtke lesen: http://www.peter-radtke.de/artikel/sprache.php
Alternative Bezeichnungen für "behinderte Menschen" beim Schreiben
Piksieben, du sprichst von "Sprachverrenkungen". Im Grunde hast du recht, aber wir sollten hier zwischen Sprechen und Schreiben unterscheiden. Im mündlichen Sprachgebrauch (Ex-Deutsch-Referendarin lässt grüßen) ist "behinderte Menschen" so ziemlich die übliche Bezeichnung, die auch weitgehend akzeptiert wird. Bei wissenschaftlichen Artikeln (und auch Vorträgen) sind sprachwissenschaftlich schöne Lösungen folgende Bezeichnungen, die weitgehend anerkannt sind:
- selbstbetroffene Menschen
- von Behinderung betroffene Menschen
- Menschen, die als behindert klassifiziert werden
- Menschen, denen das Merkmal "behindert" zugeordnet wird
- Menschen mit Behinderungserfahrungen
- Menschen mit Diskriminierungserfahrungen in Bezug auf körperliche Merkmale (dazu gehören auch Sinnesbehinderungen)
- ...
Ich finde, es gehört zum Respekt, die von den direkt betroffenen Menschen bevorzugten Bezeichnungen zu verwenden. Ich sage mittlerweile "schwarze Frau" statt "farbige Frau", weil die direkt betroffenen Rassismus-Wissenschaftler das wünschen. Bei Unterhaltungen sind sprachliche Reduktionen o.k., bei wissenschaftlichen Vorträgen und Artikeln sind die "Sprachverrenkungen" angemessen.
Menschen sind nicht behindert, sondern werden behindert
Weiter oben habe ich vom Behindert-Werden der Menschen geschrieben. Damit ist gemeint, dass Menschen nicht so sehr durch körperliche Merkmale, sondern durch Vorurteile und Barrieren behindert werden. Gäbe es überall Braille, Wegleitsysteme für Langstöcke (nicht "Blindenstöcke" ), menschliche Assistenzen, Assistenzhunde, Audiobücher usw., wären blinde Menschen nicht mehr behindert. Unterhält sich eine Gruppe von gehörlosen Menschen in Gebärdensprache und ein hörender Mensch ist darunter, der nichts versteht, dann ist er der Behinderte, während die gehörlosen Menschen nichtbehindert sind.
Prof. Swantje Köbsell unterscheidet zwischen dem medizinischen (inidividuellen) Modell von Behinderung, das in der Sonderpädagogik verbreitet ist, und dem sozialen Modell von Behinderung, das in den Disability Studies vertreten ist. Mehr dazu: http://www.hs-emden-leer.de/fi…g_Koebsell_Emden_2013.pdf (damals noch als "Dr." unterwegs gewesen)
Ein Blogtext von Christiane Link erklärt den Unterschied auch ganz gut verständlich: http://blog.zeit.de/stufenlos/…esellschaftliche-aufgabe/
Das Thema "Behinderung" in der Schule
In manchen Klassen wird je nach Lehrplan ja Behinderung als Thema behandelt. Mein Tipp ist, behinderte Menschen mit behindertenpolitischem Hintergrund in den Unterricht einzuladen oder behinderte Menschen, die selbstbestimmt wie nichtbehinderte Menschen leben und arbeiten. Gute Anregungen für den Unterricht in kindgerechter Form finden sich dort: http://www.inklusion-als-menschenrecht.de/
Literaturtipps
Wer tiefer in die kritische Behindertenwissenschaft einsteigen möchte, dem seien beispielhaft folgende Namen genannt: Swantje Köbsell, Theresia Degener, Anne Waldschmidt, Gisela Hermes, Heike Raab, Rebecca Maskos, Michael Zander, Udo Sierck. Sie sind alle selbst betroffen.
Zum Begriff "Disability Studies" kann ich diesen Text empfehlen: http://www.disabilitystudies.de/agdsg.html#vortrag1
Besonders empfehlen kann ich die folgende Website "Leidmedien" (absichtlich mit "d" geschrieben), die sich sehr kritisch mit der Darstellung von behinderten Menschen in den Medien auseinandersetzt und auch Sprachliches auseinanderpflückt: http://leidmedien.de/
Nur am Rande zum Schluss...
Als jemand, die sich mit Diskriminierungen verschiedener Arten befasst (nicht nur auf behinderte Menschen bezogen), bevorzuge ich eigentlich die Schreibweise "Wissenschaftler_innen", weil es Meschen gibt, die sich weder als eindeutig weiblich noch als eindeutig männlich definieren (z.B. inter- und transsexuelle Menschen). Aber ich wollte die politische Korrektheit in meinem Posting nicht auf die Spitze treiben...
Um zurück zum Ausgangsposting zu kommen: Ausrufe wie "Das ist voll behindert, ey!" sollten tatsächlich konsequent unterbunden werden. Siehe hierzu auch Leidmedien: http://leidmedien.de/journalis…pps/begriffe-von-a-bis-z/