Die beiden Entscheidungen des BVerfG sind aus den Jahren 1975 und 1993. 1975 durften Männer ihren Frauen noch verbieten zu arbeiten. Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 strafbar.
Rechtsaufassungen ändern sich. Und dass sich alte, weiße und vor allem christliche Männer in diesem gesellschaftlichen Klima Gründe gegen Schwangerschaftsabbrüche ausdenken, um Frauen unter Kontrolle zu halten, ist wenig verwunderlich.
Da misch ich mich aber mal ein, weil mich diese Art der (polemischen) Argumentation etwas stört.
Weil manche Sachverhalte in der Vergangenheit nicht gut / unwürdigt / blöd / menschenverachtend geregelt waren, heißt das doch nicht automatisch, dass jede Entscheidung eines Gerichts aus der Zeit so war. Außerdem sehe ich durchaus einen Unterschied zwischen dem Urteil des Verfassungsgerichts und einer damals bestehenden Gesetzeslage ("einfaches" Gesetz vs. Urteil des obersten Gerichts). Dieses "mir passt das Urteil nicht, deswegen ziehe ich es in Zweifel - lag bestimmt daran, dass alles alte, weiße Männer waren" macht eine Tür auf, bei der man sich gut überlegen sollte, ob die nicht zu bleiben sollte. Denn der nächste, dem ein Urteil nicht passt, kann auch so argumentieren und dann bestärkt man das Gerede von "Systemjustiz" usw.
Ja, Rechtsauffassungen können sich ändern - nur habe ich noch keine geänderete Rechtsauffassung des BVerfG zu dem Thema gehört.
aktuelle (?) Rechtsauffassung (Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags, 2018): https://www.bundestag.de/resou…WD-7-256-18-pdf-data.pdf:
"Das Bundesverfassungsgericht hat offengelassen, ob der verfassungsrechtliche Schutz des menschlichen Lebens bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt. Vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Fortschritts, der eine extrakorporale Entwicklung menschlichen Lebens ohne eine Nidation ermöglicht hat, und der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, dass jedes menschliche Leben schützenswert ist, gesteht ein großer Teil der Literatur dem ungeborenen Leben bereits ab diesem Zeitpunkt den Schutz der Verfassung zu, vgl. etwa Höfling, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 6. Auflage 2011, Art. 1, Rn. 60, Art. 2, Rn. 145; Hillgruber, in: Epping/Hillgruber: Beck’scher Onlinekommentar Grundgesetz, 38. Edition, Stand: 15.08.2018, Art. 1, Rn 4.
Das ungeborene Leben ist mithin bereits Träger von Grundrechten. Eine Verletzung seiner Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG kann verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden, ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2, Satz 1 GG unterliegt dem einfachen Gesetzesvorbehalt des Art. 2, Abs. 2,
Satz 3 GG."
Damit eins klar ist: Ich habe hier keine Meinungsäußerung zum Schwangerschaftsabbruch abgegeben (ich habe dazu eine Meinung, aber keine Lust, in die Diskussion so wie sie geführt wird einzusteigen). Nur das "Wegwischen" eines Verfassungsgerichtsurteils mit dieser Nonchalance stört mich. Der behauptete Zusammenhang wäre erst einmal deutlicher zu belegen. Der erste Blick auf die Liste der VerfassungsrichterInnen (ha!) gibt das für mich nicht automatisch her.
1995 entschied das BVerfG, dass man Soldaten als Mörder bezeichnen darf. Hat einen guten Bekannten persönlich sehr getroffen und gestört. Mit der obigen Argumentation hätte er mit "das müssen lauter langhaarige, grüne Kiffer gewesen sein" (von wegen alte, weiße, christliche Männer) das Urteil für sich einfach abtun können, nur lebt mMn unser Staat davon, dass man auch Urteile, die einem nicht passen, akzeptiert - oder juristisch gegen sie vorgeht. Sonst wird's arg beliebig.