Zitat ’unter uns’: «Die "kommunikative Einbettung" sprachlicher Äußerungen ist ein Grundgedanke der 1970er Jahre, also jener Jahre, in der der Verlust von Rechtschreibkompetenzen vermutlich ungefähr begann. Es spricht nichts dafür, dass hier ein Schlüssel zur Lösung von Rechtschreibproblemen (!) läge.»
Unter einen Schüleraufsatz würdest Du vermutlich die Bemerkung setzen “Begründung?“
Sicherlich wollte ich Dich mit meinen Anmerkungen zu Deinem Rechtschreibunterricht mit Fünftklässern nicht kränken. Sollten diese dennoch eine solche Wirkung entfaltet haben, entschuldige ich mich.
Keineswegs wollte ich Dich jedoch zu Rundumschlägen ermutigen: Thematik in diesem Thread sind indes allerdings tatsächlich schon die Rechtschreibung und die u. a. von Dir eingebrachte Textgestaltung – diesem Anliegen wollte ich mit meinen Anmerkungen samt Zitat entsprechen.
Zitat manu1975: «Außerdem missfällt mir, dass der Thread relativ sachlich angefangen hat und es nun in einen persönlichen Machtkampf, wer Recht hat und wer nicht, entglitten ist. Wieso ist es so selten möglich, einfach mal beim Thema zu bleiben und normal zu diskutieren? Ich hätte es durchaus schöner gefunden, wenn man gemeinsam Ansätze von Lösungswegen gefunden hätte, anstatt sich hier gegenseitig wieder zu "zerfleischen".»
manu1975 hat völlig Recht: Zu vieles gibt es noch zu reflektieren und zu diskutieren – am besten natürlich ohne jegliche Polemik. Eigentlich könnte die Thematik dieses Threads ein Dauerthema sein, dann jedoch bitte unter einer anderen Überschrift, denn diese “Was tun die Grundschulen im Sprachunterricht?“ klingt mir zu sehr nach “Was tun die Grundschulen eigentlich im Sprachunterricht?“ bzw. nach einem Vorwurf in Richtung Grundschullehrer/innen.
Mag sein, dass es im modernen Anfangsunterricht gehäuft auch zu methodenverursachten Rechtschreibschwierigkeiten kommt. Indes unterrichten Grundschullehrer/innen, so weit ich sie kenne, durchweg so – und das mit hohem Engagement und nach bestem Wissen und Gewissen - wie sie es an den Hochschulen und Seminaren gelernt haben und es ihnen oft sogar vorgeschrieben wird (teilweise in Thüringen): nach ’Lesen durch Schreiben’ bzw. nach dem Spracherfahrungsansatz (nicht ganz deckungsgleich). Gelernt haben sie bei Professoren, die oft genug nicht einmal irgendein Lehramt studiert haben, die nur in Ausnahmefällen auf eine schulische Tätigkeit verweisen können, die jedoch regelmäßig Jahrzehnte zurückliegt, die auch kein Fachstudium in Einzelwissenschaften wie der Fachdidaktik Deutsch, der Psychologie oder der Sprachwissenschaft nachweisen können. Es ist nicht bekannt, dass je Professoren für Grundschulpädagogik über längere Zeit hinweg eigene berufsbegleitende Unterrichtstätigkeiten vor Ort als notwendigen praktischen Teil ihrer Aufgaben gesehen hätten. Professoren aus anderen Fachrichtungen monieren das zu Recht.
Prof. Dr. Manfred Spitzer in “Lernen“, Heidelberg-Berlin 2002
"Die Vorstellung, dass ein Professor nach dem Studium für ein paar Monate an eine Klinik geht, um sich dann der Didaktik der Medizin und der Ausbildung der Ärzte (und sonst nichts) zuzuwenden, ist in der Medizin absurd.Genau dies geschieht jedoch in der Pädagogik. Die klinischen Aufgaben eines Universitätsprofessors in der Medizin würden ein viertel bis zu einem dreiviertel Deputat an einer Schule entsprechen. Warum können Professoren für Pädagogik dies nicht ähnlich handhaben?"
Prof. Dr. Rainer Dollase, Universität Bielefeld, Abteilung Psychologie:
„Ein Chirurgieprofessor kann seinen Studierenden auch die Entfernung eines Blinddarms vormachen und die Studierenden lernen durch Beobachtung, also durch Vormachen und Nachmachen, wie man so etwas tut. So geschieht es in der Erziehungswissenschaft seit 20 - 30 Jahren nicht mehr: Fachfremde Professorinnen und Professoren phantasieren auf der Basis von Literatur sich neue pädagogische Theorien zusammen, bilden im Brustton der Überzeugung Lehrkräfte aus, die dann den Stoff in Prüfungen perfekt herunterrasseln, ohne in irgendeiner Form irgendetwas für die Praxis gelernt zu haben. […..]
Wie soll man eine verbesserte Qualität in unserem Schulsystem erreichen? Der einfachste Weg wäre, wenn man Lehrerausbildungsinstitutionen hätte, in denen Professoren mindestens einmal im Jahr einen Monat lang eine schwierige Sekundarstufe I Klasse übernähmen (keine S II Klasse) und ihre weltabgehobenen Ideologien dort vor Ort testen. Wenn also die Professorinnen und Professoren, die unsere Lehrer und Lehrerinnen ausbilden, selber Experten für die Praxis wären. Dann hätten wir einen Zustand wie in der Medizin.“
Prominentestes Beispiel ist wohl der Erfinder des Spracherfahrungsansatzes, der Reformpädagoge Prof. Dr. rer. soc. Hans Brügelmann (Professor für Anfangsunterricht mit den Schwerpunkten Erstlesen und Erstschreiben, Grundschulpädagogik u. –didaktik). Nach dem Studium der Rechts- und Sozialwissenschaften und dem Abschluss eines Aufbaustudiums (in Konstanz mit dem Grad Lic. rer. soc./Sozialwissenschaften), nach einem zweijährigen USA-Aufenthalt (Forschungsstipendium der Stiftung Volkswagenwerk /Universität Konstanz, CA Norwich, OISE Toronto, CIRCE Urbana/Ill.) promovierte er in Konstanz zum Dr. rer. soc. (Sozialwissenschaften). Ohne Lehramtsstudium, ohne eigene Tätigkeit als Lehrer, wurde er 1980 an der Universität Bremen Professor für Anfangsunterricht mit dem Schwerpunkt Erstlesen/Erstschreiben. In „Mein Weg zum Spracherfahrungsansatz“ (GS aktuell 104, November 2008] bekannte Brügelmann:
„Als ich 1980 von der Universität Bremen auf eine Professur für Anfangsunterricht berufen wurde, hatte ich von Lese- und Schreibdidaktik kaum Ahnung. Um mich vor den Studierenden nicht zu blamieren, las ich alles, was ich in die Hände bekam – und war irritiert: Überall konnte ich lesen, wie man Lesen und Schreiben lehrt, aber ich fand kaum empirische Befunde bzw. Erklärungsansätze dazu, wie Kinder lesen und schreiben lernen.“
Drei Jahre später schrieb der Seiteneinsteiger Prof. Brügelmann sein erstes Buch zur Lese- und Schreibdidaktik im Anfangsunterricht, was wegweisend wurde für seinen Spracherfahrungsansatz.
Wesentlich mitentscheidend für Brügelmanns Erkenntnisse über den Anfangsunterricht war seinem Bekunden nach ein Bericht über Sylvia Ashton-Warner, eine neuseeländische Schriftstellerin (’Quelle meiner Einsamkeit’, Roman), Malerin und Lehrerin, ihr pädagogischer Grundsatz: individuelle Freiheit. Ihren Berichten nach erfand Sylvia Ashton-Warner in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine neue Methode des Schriftspracherwerbs, mit der es ihr - ihrem eigenen Bekunden nach - seinerzeit gelungen sein soll, benachteiligte Maori-Kinder in Neuseeland in die Welten der Schrift einzuführen.
Der praxisferne Prossor Brügelmann wird kaum wissen, wie sich Ashton-Warners Forderungen vor Ort in heutigen Grundschulklassen auswirken können. Auch Sylvia Ashton-Warners neuer Unterricht war „voller Bewegung und Geräusche“*. Sie nannte das 'geräuschvolle Art von Stille' und empfahl: „Wer keinen Lärm verträgt, darf nicht Lehrer werden.“* Um die Atmosphäre nicht in Chaos umschlagen zu lassen, empfahl Ashton-Warner daher als optimale Gruppengröße 8-10 Kinder.* In nicht wenigen Bundesländern dürfen in Grundschulklassen noch immer 30 Kinder sitzen. Ob H. Brügelmann das überhaupt je wissen wollte?
* In: Gegenschulen – Radikale Reformschulen in der Praxis (Autor: Jörg Ramseger, Bad Heilbrunn 1975)