Aggressives Kind

  • Hallo,


    ich brauche mal eure Hilfe, da ich selber mit solchen Situationen noch keine Erfahrung gesammelt habe.


    In meiner 1. Klasse habe ich einen 7-jährigen Jungen, der durch große Aggressivität auffällt, die sich im Laufe des Schuljahres gesteigert hat.
    Mehrere Eltern haben mich darauf angesprochen, dass ihre Kinder von diesem Jungen getreten, zu Boden geworfen, zu Dingen gezwungen werden, die sie nicht wollen ...


    Der Junge wurde im Kindergarten selber von den anderen Kindern so behandelt, wie er es nun selber macht.


    Daraufhin beschloss man im Kindergarten ihn in einen Selbstverteidigungskurs zu schicken. Diesen besucht er heute noch 2 mal wöchentlich.


    Da er körperlich im Vergleich zu den anderen Kindern, die er ärgert, sehr groß und kräftig ist, stellt das ein noch ernsteres Problem dar.
    Er hat die Möglichkeit andere zu verletzen. Mit der Mutter habe ich bereits telefoniert und einen Termin ausgemacht.
    Die Mutter erzählte mir, dass sich schon andere Eltern bei ihr beschwert hätten und sie sich auch Sorgen macht, dass ihr Junge andere Kinder verletzen könnte.
    Sie erzählte zudem, dass er seit Verlassen des Kindergartens seinen besten Freund nicht mehr gesehen hat (er ist weggezogen). und das er Zuhause zunehmend von der Schule frustriert ist und das auch an seinem kleineren Bruder auslässt. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass ich ihn in der Schule immer häufiger ermahnen muss.
    Der Stoff stellt für den Jungen bisher kein Problem dar. Also scheint ihn dieser nicht zu überfordern, aber auch nicht zu unterfordern.


    Ich möchte ihn zur Schulpsychologin schicken, wenn die Eltern damit einverstanden sind, wovon ich ausgehe.


    Hat jemand von euch sonst noch Ideen oder Vorschläge.
    Ich könnte wirklich euren Rat gebrauchen.

  • Oje, das ist wirklich schwierig! Anscheinend verfügt der Junge nicht über Kompetenzen, die ihm ein angemessenes Reagieren auf Konfliktsituationen ermöglichen. Er hat nie gelernt, Streitigkeiten verbal auszutragen. Diese Kompetenzen zu vermitteln, kannst du, wenn sie ihm völlig fehlen, in deinem normalen Unterricht wohl nicht vollständig leisten, da ist in der Tat Unterstützung von außerhalb von Nöten. Aber du könntest beispielsweise mal eine Konflikteinheit im Unterricht machen, wo die Entwicklung von Konflikten und vor allem deren Vermeidung und Bewältigung an Hand von Texten, Rollenspielen etc. thematisiert wird. Es gibt auch Aggressionstrainer, die man an die Schule einladen kann.
    Eine weitere Möglichkeit, dem Jungen zu helfen, wäre eine tägliche kurze Besprechung zwischen dir und ihm. Jeden Mittag nach der Schule kommt er zu dir. Ihr besprecht den Tag mit allen Problemen und KOnflikten, die aufgetreten sind. Dann kann er selbst sein Verhalten reflektieren und ihr zeigt alternative Handlungsmöglichkeiten auf.
    Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Erfolg
    Britta

  • Leider kann man für verhaltensauffällige Kinder nur schwer "Tipps" geben im Sinne von Rezepten. Allerdings gibt es Dinge, mit denen ich selbst in vielen Fällen gute Erfahrungen gemacht habe und die du vielleicht ausprobieren könntest.
    Es ist sehr gut, wenn ihr schon bemerkt habt, dass sein Verhalten durch Frustrationserlebnisse hervorgerufen wird. Das ist bei verhaltensauffälligen Kindern ganz häufig der Fall, wird aber leider viel zu selten so erkannt.
    In solchen Fällen ist es wichtig, diesem Kind positive Schulerlebnisse zu vermitteln. Manchmal gestaltet sich das natürlich schwierig, da solche Kinder ja oft dermaßen unaustehlich sind, dass man nicht viel findet, was des Lobens wert wäre. (Wichtig ist, dass es eine echtes Lob ist und das positive Erlebnis auch für das Kind als solches erkennbar. Also nichts loben, was nicht wirklich gut ist.)


    Eine weitere gute Möglichkeit bieten Verhaltensverträge: Das erwünschte Verhalten wird mit dem Kind besprochen und ein VErtrag darüber abgeschlossen, dass es bestimmte Dinge ändern muss. Dabei muss man natürlich langsam anfangen, damit das Kind auch wirklcih die Möglichkeit hat, den Vertrag zu erfüllen. Also z.B.für jede Stunde lachende bzw. weinende Smilies verteilen, je nach Verhalten. Je mehr lachende Smilies, desto besser natürlich. Am Anfang wird der Junge sicher nicht alle STunden mit Smilies meistern, aber es werden in der Regel im Laufe der Zeit immer mehr.
    Wichtig wäre auch, mit dem Jungen alternative Verhaltensweise zu erarbeiten. Das kann ruhig als Unterrichtseinheit mit der gesamten Klasse durchgeführt werden. Meistens profitieren von solchen Einheiten alle Schüler.
    Spezielle Verhaltensalternativen können auch mit dem Jungen vereinbart werden, z.B. "Wenn ich wütend bin, schlage ich kein Kind, sondern boxe den SAndsack." (Müsste dann angeschafft werden, ist aber nur ein Beispiel. Vielleicht findet ihr andere Möglichkeiten, wie er sich abreagieren kann, ohne jemanden zu gefährden.) Auch hier muss für den Jungen idealerweise durch Visualisierung transparent gemacht werden, dass er Fortschritte macht. (Das ist häufig auch wichtig für die Lehrkräfte, weil man manchmal das Gefühl haben wird, dass es nicht vorangeht.).


    Es gibt ein Unterrichtsprogramm für die Grundschule zu dem Thema Konfliktlösungen und Selbstwahrnehmung: Igor Igel - Fit und stark für's Leben von F. Burow. Das gibt es für Klasse 1/2, 3/ 4 und 5/6. Ich habe es selbst noch nicht eingesetzt, habe aber von Kollegen sehr viel Positives darüber gehört.

    Lieben Gruß,
    Mia

    Man soll denken lehren, nicht Gedachtes.
    (Cornelius Gustav Gurlitt)

    Einmal editiert, zuletzt von Mia ()

  • Obwohl ich täglich mit erziehungsschwierigen Schülern zu tun habe, bin ich auch oft ganz ratlos. Ein Verhaltensprogramm wäre bestimmt eine gute Idee: Zu Beginn der Woche besprichst du mit ihm 1-2 Dinge, die er sich für die Woche vornehmen soll. Am Ende der Woche wird besprochen, ob er seine Vorsätze eingehalten hat. Die Idee mit der Schulpsychologin würde ich mit Einverständnis der Eltern unbedingt umsetzen. Vielleicht könnte man auch den Sport - Trainer in irgendeiner Weise einbeziehen. Schließlich lernt man doch gerade in Selbstverteidigungskursen, dass man die Technik wirklich nur im Ernstfall anwenden darf und nicht dazu benutzt, andere anzugreifen - oder? Kannst du den Jungen nicht mal darauf ansprechen? Könntet ihr eventuell ein Klassengespräch führen, in dem die Mitschüler sagen, dass sie sich vor ihm fürchten und ihm sein Verhalten spiegeln (Vielleicht merkt der Junge gar nicht, was er macht?).
    Sorry, dass ich nicht helfen kann... Viel Erfolg.
    Tusnelda

  • Es fällt mir sehr schwer, zu glauben, dass diese Aggressivität erst jetzt entstanden ist, seitdem er in der Schule ist. Woher weißt du das? Auf alle Fälle würde ich Kontakt zu den Erziehern aufnehmen, vielleicht können die noch wertvolle Hinweise geben. Wenn die Mutter meint, dass er keine Freunde hat, könnte man doch versuchen, dass er sich mit Kindern der Klasse nachmittags trifft - falls es wirklich an den mangelnden Freunden liegt.
    Ansonsten ist es wirklich ein Teufelskreis, der entstehen kann. Meine letzte Klasse war mit 6 wirklich heftigen Problemkindern behaftet. Ein Kind war auch so aggressiv und schmiss Stühle, wenn er frustriert war, nicht mehr wollte, nicht mehr konnte,.... . Ich musst alles, was ich an Arbeitsformen einsetzte, umstellen zu Frontalunterricht, um die Kinder voreinander zu schützen. Denn jedes Aufstehen während eine sArbeitsplanes führte dazu, dass jemand angerempelt wurde und schlussendlich ein Streit mit explosivem Ausgang entstande. Furchtbar war das. Die Eltern überlegten schon, ihre Kinder aus der Klasse zu nehmen. Mit sehr viel Übungen zur Entspannung, Ruhe, Geduld, Konfliktaufarbeitung, parallel dazu Verbindung zu außerschulischen Hilfeeinrichtungen, sprich Kinder- und Jugendpsychiatrien haben wir das Problem schlussendlich besser gemeistert. Zwischendurch haben wir den schlimmsten Jungen auch mal nur 2 Stunden täglich beschult, weil er 4 Stunden einfach nicht schaffte (und der Rest der Klasse auch nicht).


    Ich wünsche dir viel Kraft.
    flip

  • Vielen Dank zunächst einmal für eure Beiträge.


    Ich habe gerade noch etwas recherchiert und überlege, ob ich den Jungen nicht auf ADHS testen lassen soll, falls er zum Schulpsychologen gehen wird.


    Es gibt doch einige Kriterien, die auf ihn zutreffen. Obwohl ich denke, dass viele Kriterien sehr allgemein sind und auch auf nicht-auffällige Kinder zutreffen.


    Aber ich denke der Schulpsychologe wird in dieser Hinsicht sicherlich mehr Erfahrung haben.
    Und eine Anfrage für einen Test diesbezüglich kann auch nicht schaden, oder?

  • Zitat

    Igor Igel - Fit und stark für's Leben von F. Burow.


    Danke für den Tipp. Habs eben bestellt. Ich hoffe es ist das richtige Buch. Da stand nämlich nichts von Igor Igel bei.
    Allerdings stimmt der Rest überein. Und auf dem Einband ist ein Igel abgebildet.
    Klett-Verlag ist richtig, oder?

  • Hm, wie gesagt, ich hab es selber noch nicht umgesetzt bzw. habe das Buch selbst auch nicht. Aber ich hab's mal von einer Kollegin gezeigt bekommen und es war tatsächlich ein Igel drauf abgebildet. Wird also bestimmt das Richtige sein...

    Man soll denken lehren, nicht Gedachtes.
    (Cornelius Gustav Gurlitt)

  • Ich habe das Gefühl, dass ADHS zur Zeit eine "Mode - Diagnose" ist. Du kannst ihn testen lassen, aber was dann? Hilft es dir weiter? Ich habe mit einer Psychologin darüber gesprochen. Sie sagt, es hat allerhöchstens Entlastungsfunktion für Eltern und Lehrer nach dem Motto: An mir liegts nicht...
    Tusnelda

  • Zitat


    Ich habe das Gefühl, dass ADHS zur Zeit eine "Mode - Diagnose" ist. Du kannst ihn testen lassen, aber was dann? Hilft es dir weiter? Ich habe mit einer Psychologin darüber gesprochen. Sie sagt, es hat allerhöchstens Entlastungsfunktion für Eltern und Lehrer nach dem Motto: An mir liegts nicht...
    Tusnelda


    Mit der Mode-Diagnos liegst du sicherlich richtig. LRS und ADS wird zur Zeit viel vermutet. Aber ich mache das nicht, um mein Gewissen zu beruhigen.
    Mein Hauptaugenmerk liegt zur Zeit auch auf den anderen Tipps. Habe mir bspw. auch das von Mia empfohlene Buch bestellt.


    Aber dennoch möchte ich nichts unversucht lassen, um dem Schüler irgendwie zu helfen.
    Und wenn auch nur die geringste Verdacht für ADHS vorliegt, sollte man dies meiner Meinung nach weiter verfolgen.
    Sollte sich dieser Verdacht bestäigen, so gibt es Mittel und Wege, diesem Schüler speziell zu helfen (und damit meine ich nicht Medikamente).


    Aber ich denke, dass der Schulpsychologe wesentlich versierter auf diesem Gebiet ist. Deshalb werde ich den Eltern diesen Schritt empfehlen und mich mit dem Psychologen einmal zusammensetzen.

  • Soso-Entlastungsfunktion für Eltern und Lehrer-
    ach, da wird man ja müde überhaupt zu antworten...


    Kerstin:


    du gehst das genau richtig an ;)
    sollte es allerdings auf ads hinauslaufen, so reicht die schulpsychologische Untersuchung für eine fundierte Diagnose definitiv nicht aus.


    Ich finde dein Engagement super. Vielleicht benötigen die Eltern dringend deine Unterstützung, denn soweit ich heraus lesen kann, ist das Kind bereits länger "auffällig" und es ist noch nichts unternommen oder abgeklärt worden...


    gruß
    eris

  • Ich würde ADS auf alle Fälle abklären lassen. Am besten in der Kinderklinik (mit angegliedeter Kinder- und Jugendpsychiatrie). Ich habe einen ADS FAll in der Klasse, das Kind bekam Ritalin, nur durch die Schulpsychologin angeordnet, die sich das Kind einmal anschaute und dann verordnete es der Kinderarzt weiter. Ist mir zu wenig, ein EEG und ähnliches würde für mich dazugehören. Ich kann die Eltern verstehen, die das Medikament wieder abgesetzt haben.
    Sie werden jetzt eine Klinik aufsuchen. Ich bin mir in dem Fall aber sicher, dass es ADS ist, und das Ritalin o.k. ist.
    Wie reagieren denn die Eltern?

  • Mit den Eltern habe ich wirklich Glück.
    Diese sind sehr einsichtig und bemüht ihrem Sohn zu helfen.


    Mal abwarten, wie sich das Ganze weiter entwickelt.

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