Texte laut lesen - bis welche Stufe?

  • Hi Leute,
    heute war ich ziemlich verblüfft, als meine 12er in Geschi mir erzählten, dass Kollegen die Angwohnheit haben, Text auch in der Oberstufe noch von einzelnen laut lesen zu lassen. Wohlgemerkt geht es dabei nicht um Dichtung, Fremdsprachen oder ähnliches, sondern Quellen- und Sekundärtexte. Ich halte das erstens für nicht altersangemessen und meine zudem, dass die Komplexität der Texte es erfordert, sie leise lesen zu lassen. Die Schüler sagten auch, sie fänden das nicht so gut, aber dann könne der Lehrer sich drauf verlassen, dass alle den text auch wirklich gelesen haben (was natürlich ein Trugschluss ist, wenn man mit Lesen auch das gedankliche Erfassen meint; zudem ist es in der Oberstufe ja der Selbstverantwortung der SuS überlassen, inwieweit sie verstehen und sich beteiligen wollen)


    Mich interessiert aber trotzdem, wie ihr das haltet - wann ist die Grenze? Ich ziehe sie für gewöhnlich irgendwo im laufe der Klasse 9.
    Grüße,
    JJ

  • Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass laut lesen im Kursverband das Verständnis ggf. vertieft - oder Missverständnisse transparent macht.


    Habe übrigens auch schon an mir selbst festgestellt, dass professionelle Lektüren mein Textverständnis verbessern.


    Z.B. besitze ich eine Aufnahme von Kants Aufklärungsaufsatz, gelesen von einem Profi. Durch diese Aufnahme ist mir die Argumentationsstruktur des Textes (v.a. im zweiten Teil, den man i.d.R. nicht so gründlich liest wie die Einleitungssätze) viel deutlicher geworden.


    Und mehrkanalig isses auch noch. ;)

  • Also unser Schulleiter pflegt wichtige Texte auf der Konferenz auch laut vorzulesen. Und bei vielen Powerpointpräsentationen wird der Test zugleich gezeigt und gelesen, wegen der beiden Eingangskanäle.


    Es ist ein Unterschied zu machen zwischen laut lesen und vorlesen. Vorlesen ist eine Kunst, die viele ausüben, aber nur wenige beherrschen ...


    bablin

    Wer hohe Türme bauen will,
    muss lange beim Fundament verweilen.
    Anton Bruckner

  • Zitat

    Bablin schrieb am 13.01.2006 16:10:
    Es ist ein Unterschied zu machen zwischen laut lesen und vorlesen. Vorlesen ist eine Kunst, die viele ausüben, aber nur wenige beherrschen ...


    Ja, aber wäre es nicht zweckmäßig, den Schülern die Gelegenheit zu geben, sich in dieser Kunst erste Sporen zu verdienen?

    Einmal editiert, zuletzt von philosophus ()

  • Zitat

    Ja, aber wäre es nicht zweckmäßig ...

    Ich denke schon.


    Wirklich beurteilen kann ich es nicht, da ich in einer anderen Schulart und Schulstufe unterrichte. Und meine KollegInnen - Primarbereich, Grund- und Förderschule, (natürlich nicht die unmittelbaren ;) ) legen m. E. zu viel Wert auf lautes Lesen und zu wenig Wert auf stilles sinnerfassendes Lesen.


    Bablin

    Wer hohe Türme bauen will,
    muss lange beim Fundament verweilen.
    Anton Bruckner

  • Witzigerweise lesen meine durchwegs "Großen" (Berufskolleg, 16 Jahre aufwärts) richtig gerne vor und ziehen das laute dem stillen Lesen vor. Ich wechsle die Vorleser jedoch mehrfach während eines Textes, da derjenige, der vorliest, eben leider zu wenig vom Inhalt mitbekommt.


    Viele Grüße
    volare

    Eine Lösung kommt fast immer aus der Richtung, aus der man sie am wenigsten erwartet, was bedeutet, dass es keinen Sinn hat, in diese Richtung zu gucken, weil sie nicht von dort kommen wird.


    (Douglas Adams)

    • Offizieller Beitrag

    Ich lasse - auch in der OS - auch manche Textteile laut lesen. Und zwar dann, wenn
    - ich meine, dass dadurch ein ironischer oder anderer Unterton besser zum Tragen kommt
    - wenn ich befürchte, dass über wichtige Fachbegriffe "hinweggelesen" wird
    - wenn ich den Vortrag einer bestimmten Textart üben will (Rede, Monolog, etc)
    - wenn ich auf eine Stelle besondere Aufmerksamkeit lenken will und alle sollen zur gleichen Zeit dort ankommen, damit ich evtl unterbrechen und etwas diskutieren lassen kann
    - in Englisch natürlich der Sprachübung wegen
    - manchmal einfach der Abwechslung halber


    Bei Quellen sind allerdings viele der o.g. Punkte (?) nicht unbedingt gegeben, abe da mag es ja ähnliche Gründe geben...

    WE are the music-makers, and we are the dreamers of dreams,
    World-losers and world-forsakers on whom the pale moon gleams
    yet we are the movers and shakers of the world for ever, it seems.


  • Ich lege an der Hauptschule ebenfalls in allen Fächern Wert auf lautes Vorlesen. Anfang der 5.Klasse ist das oft ein Gestammel - weil manche Schüler aus einem einzigen Grund nicht zu sinnerfassendem Lesen fähig sind: sie können kaum lesen und erschließen die Texte teilweise noch silbenmäßig.... :(
    Am Ende der 6.Klasse gebe ich die Schüler in der Regel so ab, dass jeder auch sinnerfassend (im Rahmen seiner intellektuellen Fähigkeiten :rolleyes: lesen kann.


    Auch in Klasse 8 und 9 lege ich aus den von Philo genannten Gründen Wert auf lautes Vorlesen der zu erarbeitenden Texte.

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

    Einmal editiert, zuletzt von alias ()

  • Hallo,
    meine Schüler (Sek I) lesen auch gerne vor. Im Deutschfachseminar hat man uns aber gesagt (und wir haben es durch einen Selbstest bestätigt), dass lautes Vorlesen nicht sinnerfassend sein kann, weil die SuS sich nur aufs Vorlesen konzentrieren. Bei UBs (besonders in Fremdsprachen) soll das laute Vorlesenlassen unbekannter Texte auch sehr schlecht angekommen sein. Man weiß ja auch beim lauten Vorlesen nicht, an was die anderen SuS eigentlich gerade denken und ob sie nicht vielleicht nur darauf achten, wie gut der Vorleser liest.
    Ich lasse meine SuS die Texte jetzt immer leise lesen. Es gibt auch andere Möglichkeiten abzusichern, dass gelesen wird.
    Laut vorgelesen werden nur noch schon bekannte Texte.

    • Offizieller Beitrag

    Ich lasse durchmischt mal laut vorlesen (eher, wenn die Schüler wild aufs laut lesen sind) und dann mal wieder leise und für sich. Lieber eigentlich leise, seit meine FL mich daruf hingewiesen hat, dass die Leseforschung herausgefunden hat, dass leise lesen ohne anstreichen und ohne Zeitdruck am besten auf die Merkleistung wirkt.


    Liebe Grüße,


    Dalyna

  • Zitat

    Und bei vielen Powerpointpräsentationen wird der Test zugleich gezeigt und gelesen, wegen der beiden Eingangskanäle.


    Ich selbst fühle mich dabei immer gestört - vielleicht weil ich in einem anderen Tempo lesen würde. Da verwirren mich die zwei Kanäle und ich entscheide mich, nur auf einen zu achten: Augen zu und hören.



    Zitat

    ... dass lautes Vorlesen nicht sinnerfassend sein kann, weil die SuS sich nur aufs Vorlesen konzentrieren


    Da habe ich eine ganz andere Erfahrung: man kann nur gut vorlesen und richtig betonen, wenn man sich bemüht, den Text zu verstehen. Manchmal korrigiert man sich und liest die Stelle noch mal anders betont.
    "Lautes Vorlesen" gelingt natürlich am besten, wenn man den Text schon kennt und gut "vortragen" kann.



    Zitat

    Ich ziehe sie für gewöhnlich irgendwo im laufe der Klasse 9.


    So schematisch würde ich es nicht halten. Bei guter Pädagogik sollten alle Mittel jederzeit nach sorgfältigem Ermessen erlaubt sein. Auf den Erfolg kommt es an.


    Gruß, VdW.

  • Zitat

    philosophus schrieb am 13.01.2006 15:59:
    Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass laut lesen im Kursverband das Verständnis ggf. vertieft - oder Missverständnisse transparent macht.


    ...meinst du jetzt das Lesen nach dem erarbeiteten Verständnis, oder machst du das auch bei unbekannten Texten mit OS-Schwierigkeitsgrad?


    Grüße,
    JJ

  • Vorbereitendes Lesen ist bei mir in der Regel Hausaufgabe (zusammen mit inhaltserschließenden Aufgaben); in der nächsten Stunde wird dann gelegentlich - auch nicht immer - eine Lektüre vorgeschaltet.


    Ich habe aber auch schon eine unbekannte Texte lesen lassen, um frühzeitig auf schwierige Stellen aufmerksam zu machen/zu werden.


    Was man nicht vorlesen kann, hat man offenkundig auch noch nicht verstanden. (Ich muss aber dazu sagen, dass philosophische Texte in der Regel in Syntax und Semantik ohnehin recht anspruchsvoll, z. Tl. ungewöhnlich sind.)

  • Was ich in meinen Studienunterlagen gefunden habe:


    Für das Laute Lesen spricht:
    -Schüler lesen gerne laut vor
    -schult Aussprache und Intonation
    -Verknüpfung des Schriftbildes mit dem Klangbild neuer Wörter


    inofizieller Hauptgrund:
    -Lautes Lesen lässt Unterrichtszeit vergehen, die nicht vorbereitet werden muss!


    Gegen das laute Lesen spricht:


    -Zeit, die für lautes Lesen verbraucht wird, steht nicht mehr zur Verfügung für Aktivitäten, die geeignet sind, die Kommunikationsfähigkeit der Schüler zu fördern.


    - Lautes Lesen eines bekannten Textes ist eine unnatürliche Aktivität und hat kaum etwas mit natürlicher Kommunikation zu tun, weder mit rezeptiver noch mit aktiver Kommunikation, denn:
    a) der Schüler liest nicht mit der Absicht, dem Text Informationen für sich selbst zu entnehmen oder anderen Informationen weiterzugeben,
    b) die zuhörenden Schüler bekommen nichts mitgeteilt, was ihnen neu ist.


    - der vorlesende schüler konzentriert sich notwendigerweise auf die saubere Aussprache der einzelnen Wörter, vielleicht auch auf die Bindungen zwischen den Wörtern, aber nicht auf satzübergreifende Sinneinheiten. Dadurch kommt es Gewohnheiten, die dem zügigen, sinnentnehmenden Lesen im Wege stehen:
    - der Schüler gewöhnt sich an eine viel zu hohe Zahl von fixationen (Haltestellen) für das Auge und
    - er verstärkt seine Neigung zur Subvokalisation, dem lautlosen, oder in schlimmen Fällen sogar hörbaren Bewegen der Lippen beim stillen Lesen.
    Beides führt zu einer drastischen Verringerung der Geschwindigkeit beim sinnentnehmende stillen Lesen.


    -Für die Zuhörer ist das laute Lesen, besonders wenn etliche Schüler nacheinander lesen müssen, im allgemeinen langweiligg, unergiebig und wegen des schlechten sprachlichen vorbildes oft sogar schädlich. Die meisten 'schalten ab' oder versuchen vorauszuberechnen, bei welchem Satz sie drankommen müssten.


    -Die Bereitwilligkeit der Schüler, Texte laut vorzulesen, hat sicher viel damit zu tun, dass sie es als eine sichere Aktivität ansehen, bei denen sie sich nicht anstrengen müssten.


    -Klassen, in denen regelmäßig ein beträchtlicher Teil der Unterrichtszeit auf lautes Lesen entfällt, sind Vergleichsgruppen, in denen wenig gelesen,a ber viel gespröochen wird, bezüglich Aussprache Intonation kaum überlegen, bezüglich der Kommunikationsfähigkeit jedoch deutlich unterlegen.

    Live moves pretty fast, if you don't stop and look around once in a while, you might miss it.

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