Hallo Liv,
ich habe zwar kein klassisches Lehramtsstudium samt Referendariat absolviert, sondern einen geisteswissenschaftlichen Studiengang mit anschließender DaF-/DaZ-Weiterbildung, doch als noch recht frische Lehrkraft für Deutsch als Fremdsprache in der Erwachsenenbildung konnte ich mich in deinen Worten trotzdem gut wiederfinden.
Gerade die erste Zeit über hatte ich an mich selbst den Anspruch, möglichst jede Teilnehmerfrage zur Grammatik sofort und ausführlich beantworten zu können, jede Unterrichtseinheit möglichst kreativ und vielfältig zu gestalten und dazu noch auf die individuellen Bedürfnisse jedes einzelnen Schülers möglichst perfekt einzugehen (was gerade in Integrationskursen nicht so einfach ist, weil man von der Akademikerin mit soliden Kenntnissen in verschiedenen Fremdsprachen bis zum älteren Herrn, der seit dreißig Jahren aus der Schule heraus ist bis hin zu jungen Menschen, die aufgrund der Kriegssituation in ihrem Heimatland nur eine rudimentäre Schulbildung haben, alle möglichen Lebens- und Bildungsbiographien im Kurs hat). Wie du beschreibst, habe ich auch sehr lange an der Vorbereitung gesessen, mich im Vergleich zu meinen erfahrenen Kolleginnen und Kollegen klein gefühlt und hatte Angst, dass die Teilnehmer vielleicht bei mir nicht den guten Unterricht bekommen könnten, den sie verdient haben.
Jetzt, nachdem die ersten Monate mit meinem ersten eigenen Kurs um sind, habe ich gemerkt, was für einen Druck ich mir mit meinem Perfektionismus selbst gemacht habe. Ich versuche jetzt, viele dieser Punkte anders zu händeln.
Ja, ich möchte z.B. immer noch gut vorbereitet sein auf den Unterricht und ein solides Fachwissen haben. Aber ich bekomme keine innerlichen Schweißausbrüche mehr bei dem Gedanken, eine Teilnehmerfrage mal nicht direkt beantworten zu können. Wie die anderen geschrieben haben, meiner Erfahrung nach verzeihen es einem die Schüler problemlos, wenn man mal eine besondere Detailfrage oder Ähnliches nicht ad hoc beantworten kann und die Antwort dann nachliefert, sobald man sich dazu schlau gemacht hat.
Auch, was kreative Unterrichtsgestaltung angeht, hatte ich mir selbst mehr Druck gemacht als nötig. Viele der Teilnehmer bei uns arbeiten beispielsweise ganz gerne mit dem Lehrbuch und sind irritiert oder teilweise auch erst mal überfordert, wenn ich zu viele für sie ungewohnte oder neue Methoden auf einmal ausprobieren möchte. Das Arbeiten entlang des Lehrwerks gibt ihnen anscheinend Sicherheit. Deshalb versuche ich jetzt, das bei meiner Unterrichtsplanung zu berücksichtigen und neue Aufgabenformate, kreative Projekte etc. erst nach und nach einzubauen.
Für die Vorbereitung habe ich mir selbst täglich eine grobe Zeitvorgabe gesetzt, die ich versuche, nicht zu überschreiten (außer in besonderen Situationen wie Prüfungsphasen). Danach werden die Arbeitssachen weggelegt und ich widme mich, wenn möglich, schönen Dingen, die mich erfreuen oder mir gut tun wie meinen Hobbys, meiner Familie etc. Seitdem ich dies so handhabe, bin ich deutlich entspannter als zuvor, wovon dann nicht nur meine Gesundheit, sondern auch der Unterricht und die Teilnehmer profitieren langfristig 😊 Ohne die übertriebenen Sorgen und Ängste im Hinterkopf bin ich nämlich viel entspannter im Unterricht, bekomme mehr mit von dem, was gerade in der Unterrichtssituation um mich herum los ist und kann besser auf das Wahrgenommene eingehen.
Ich könnte noch mehr schreiben, aber ich glaube/hoffe, die Botschaft ist jetzt schon deutlich geworden ... Ich kann mich auf jeden Fall ziemlich gut mit deinen Schilderungen identifizieren und würde auch den Tipp geben, langfristig - wie du es ja schon vorhast - im Rahmen einer Therapie an den inneren Überzeugungen und Glaubenssätzen zu arbeiten, die den Perfektionismus und die damit verbundenen Ängste und Panikattacken befeuern. Angststörungen fühlen sich leider sehr fies an, sind aber in der Regel zum Glück gut behandelbar, wie ich auch erfahren durfte 🌸