Angst im Referendariat

  • Man kann Sprachen auch nicht immer bis ins Letzte sezieren und alles erklären... manches "ist" einfach so. Man muss sich auch ab und an daran erinnern, dass das Ziel nicht darin besteht, Schüler zu Sprachwissenschaftlern zu machen, sondern sie sollen die nötigen Strukturen erlernen und zielgerichtet anwenden können. Kein Neuntklässler weiß 3 Wochen nach der einführenden Stunde noch, was ein Partizip ist, aber im Idealfall benutzen sie es ab und an mal (bzw. tun sie in diesem Fall ja meist eh schon, bevor es überhaupt explizit thematisiert wird).

    Das "Sezieren" bis ins Letzte ist auch etwas, das ich mir dringend abgewöhnen möchte. Wie oft versuche ich Sätze in meinem Kopf zu zerlegen oder recherchiere die Grammatik in einem Satz, der mir grade spontan eingefallen ist. Diese Grammatik benötige ich ja aktuell gar nicht in meinen Klassen, aber diese Konfrontation mit dem Gedanken "Das weiß/verstehe ich grade nicht" führt dann ständig zu Recherchen oder dem Nachschlagen von Vokabeln. Das führt mittlerweile so weit, dass ich abends mein Handy in einen anderen Raum legen muss, weil ich ansonsten bei Filmen/Nachrichten etc. ständig Vokabeln nachschlage, die ich in der Schule höchstwahrscheinlich nie gebrauchen werde (z.B. "Haushaltspaket der Bundesregierung"). ^^

  • Ich würde sagen, ich spreche Englisch auf einem hohen Niveau. Was ein Partizip ist, habe ich gerade aus Interesse mal gegooglet.

    Und das ist für mich der Knackpunkt, ich benutze diese Dinge, aber kann sie nicht bis ins Kleinste erklären, was ich aber möchte. Die Angst, dass die SuS bei mir nichts lernen und ihnen ein Nachteil daraus erwächst, dass ich ihre Lehrerin bin, ist echt groß. Andere machen sich darüber gar keine Gedanken und ich bin ständig auf Grammatikrecherche und versuche mir dieses spezifische Wissen in kürzester Zeit anzueignen.. :hitze:

  • Man kann denn Schülern auch mal sagen, dass etwas 100% so richtig ist, aber man die Begründung noch einmal nachschlagen muss.


    Wenn der ukrainische Schüler plötzlich fragt, warum man erst „Das langsame Auto“ sagt, aber dann in der Überschrift „Langsames Auto“ plötzlich ein -s am Ende auftaucht, dann musste ich das beim ersten Mal auch auch erst nachlesen.

  • Und das ist für mich der Knackpunkt, ich benutze diese Dinge, aber kann sie nicht bis ins Kleinste erklären, was ich aber möchte. Die Angst, dass die SuS bei mir nichts lernen und ihnen ein Nachteil daraus erwächst, dass ich ihre Lehrerin bin, ist echt groß. Andere machen sich darüber gar keine Gedanken und ich bin ständig auf Grammatikrecherche und versuche mir dieses spezifische Wissen in kürzester Zeit anzueignen.. :hitze:

    Mich irritiert ehrlich gesagt ein bisschen die Tatsache, dass du offenbar (einfache?) grammatische Strukturen nicht beherrschst. Natürlich gibt es immer wieder Fälle, bei denen man stutzt und nachkucken muss und schließlich ist das, wie schon geschieben wurde, auch kein Beinbruch (und die Schüler verzeihen es einem leicht bzw. meist haben sie die Frage, die man ihnen dann am nächsten Tag beantwortet, dann eh schon vergessen.) Grundlegendes und auch Aufbauendes sollte man als Lehrkraft aber schon beherrschen.


    Du schriebst allerdings, dass du dein Studium für sinnlos hieltest - aber genau dafür ist ein Studium doch da. In meinen Sprachen habe ich den Großteil meiner grammatisch-syntaktisch-morphologisch-semantischen Kompetenz, die ich heute im Berufsalltag brauche, und noch vieles vieles mehr im Studium gelernt.

    Was hast du da gelernt und ist dir damals nicht schon aufgefallen, dass du Defizite im Bereich der formalen Sprachbeherrschung hast?

  • LiV_123: "Andere machen sich darüber gar keine Gedanken ....."


    Woher weißt du das? Ehrlich gesagt, habe/hatte ich manchmal auch Fachbegriffe aus der deutschen Grammatik nicht gerade im Ärmel stecken, bzw. musste das auf Grundschulniveau "runterbrechen."

  • Gibt es hier vielleicht jemanden, dem es ähnlich ging?

    Da ich Quereinsteigerin bin, halte ich mich bei den Ref-Fragen raus, möchte aber ansonsten noch nen Gedanken mit dir teilen.


    Die Ängste wurden ja schon genug angesprochen und du lässt dich da auf Beratung und Therapie ein, was ich sehr gut finde. Seine Problematiken zu kennen, ist schon ein wichtiger Schritt. In deinem Fall kommt, so glaube ich rauszulesen, auch die "Angst vor der Angst" noch mit dazu.


    Das Gute: es wird im normalen Regelfall besser und nicht schlimmer. Regelfall deshalb, weil diese starken Ängste natürlich kein Regelfall sind. Menschen mit Angststörungen brauchen Begleitung, ganz klar.


    Als ich damals in der Schule begann, saß ich nach einem dreistündigen (!) Unterrichtstag daheim, heulte, starrte die Wand an und war nicht fähig, mich noch auf iiiirgendwas zu fokussieren. Und das tage- und wochenlang. Ich hatte Angst, Fehler zu machen und damit meiner Kollegschaft Feuer zu geben, "ich sei ja keine richtige Lehrerin". So habe ich mich total überarbeitet und vertraute mich damals dann unserer Konrektorin an, dass ich nicht sicher sei, ob das für mich das Richtige sei.


    Sie sagte damals: gib dir mindestens ein halbes Jahr bis Jahr. Halte das durch und guck dann nochmals drauf.


    Und sie hatte Recht.


    Man glaubt es kaum, wie sich Dinge einspielen. Du wirst die Lücken immer mehr schließen, in der Praxis immer erfahrener sein und das Meiste geht dir immer und immer leichter von der Hand. Der Fokus auf ALLE, der am Anfang fast unmöglich scheint, gelingt immer mehr, auch die Ermüdungserscheinungen werden immer besser. Bei mir kam damals noch eine erhöhte Lärmempfindlichkeit dazu, ich hatte immer Kopfschmerzen (bin an einer Grundschule) von dem Geschrei in den Pausen etc. Die Routinen, die man entwickelt, helfen enorm und geben Sicherheit. Das Gefühl zu schwimmen und unsicher zu sein, legt sich.


    Mittlerweile komme ich nach sechs Stunden Schule gut gelaunt und frohgemut nach Hause und bin bereit für den nächsten Teil des Tages, bin voll integriert und, wie ich wahrnehme, auch geschätzt. Nie hätte ich früher gedacht, dass sich Körper und Geist so anpassen und ich mich beweisen kann. Tun sie/tut es aber. Vielleicht bei jedem/jeder in einem anderen Tempo oder in anderer Ausprägung, aber alles das, das dich momentan zu überfordern scheint, wird besser. Wenn du jetzt noch Hilfen an die Hand bekommst, wie du diesen Ängsten begegnen kannst, wirst du bald Erleichterung spüren dürfen.


    Und noch eins: Lehrkräfte sind nicht perfekt. Kommuniziere das und habe vor allem nicht den Anspruch. SuS sind da tatsächlich verständnisvoller als man denkt, wenn man Fehler zugibt und auch ihre verzeiht.


    Dir alles Gute, viel Erfolg und eine wunderschöne und erfüllende Schulzeit.

    Blowing out someone else's candle doesn't make yours shine any brighter.

  • Du schriebst allerdings, dass du dein Studium für sinnlos hieltest - aber genau dafür ist ein Studium doch da. In meinen Sprachen habe ich den Großteil meiner grammatisch-syntaktisch-morphologisch-semantischen Kompetenz, die ich heute im Berufsalltag brauche, und noch vieles vieles mehr im Studium gelernt.

    Was hast du da gelernt und ist dir damals nicht schon aufgefallen, dass du Defizite im Bereich der formalen Sprachbeherrschung hast?

    Also ich hatte meinen Schwerpunkt z.B. klar in Literaturwissenschaften und hab auch in Linguistik völlig andere Sachen als Grammatik gemacht. Klassisch Grammatik kam im 1. und 2. Semester mal in Form von Foundation Course I + II vor, das wars.

  • Also ich hatte meinen Schwerpunkt z.B. klar in Literaturwissenschaften und hab auch in Linguistik völlig andere Sachen als Grammatik gemacht. Klassisch Grammatik kam im 1. und 2. Semester mal in Form von Foundation Course I + II vor, das wars.

    Das war bei mir ähnlich. Wir hatten sogar nur einen einzigen "foundation course" in Grammatik, der mit einem "grammar exam" abschloss, das es zu bestehen galt. Weitere Grammatikkurse wurden an meiner Uni damals nicht angeboten.

    to bee or not to bee ;) - "Selbst denken erfordert ja auch etwas geistige Belichtung ..." (CDL)

  • Mich irritiert ehrlich gesagt ein bisschen die Tatsache, dass du offenbar (einfache?) grammatische Strukturen nicht beherrschst.


    Du schriebst allerdings, dass du dein Studium für sinnlos hieltest - aber genau dafür ist ein Studium doch da.

    Während meines Studiums gab es im ersten Semester einen Kurs, in dem ausgewählte Grammatikthemen noch einmal kurz wiederholt wurden. Das war’s. Ansonsten hat sich das Kursangebot in der Linguistik sehr auf Corpus- und Sociolinguistics fokussiert. Es gab aber auch Linguistik Kurse zu „Old English“, was einen jetzt auch nicht weiterbringt mit Blick auf die Schulgrammatik.


    Dass man als Lehrkraft die Basics beherrschen muss, ist ja genau das Thema, was mir Sorgen macht, weil ich nicht einschätzen kann, ob meine Skills ausreichen..

  • Vielen Dank für das Teilen deiner persönlichen Erfahrungen! :) Dies zu lesen macht mir etwas Mut und ich hoffe, dass die Angst bald weicht und ich mich voll und ganz auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren kann. Es ist und bleibt aber noch ein langer Weg..

  • Same. Ich hatte Kurse zu Old English, Middle English, Variations in Caribbean English, Language contact and change, Queer linguistics, Language death & revitalization, Urban sociolinguistics usw. usw.

    Denke, Basisgrammatik ist an der Uni eher weniger Thema.


    Muss aber zugeben, dass ich an den Didaktikkursen wenig Spaß hatte und da sicherlich mehr hätte mitnehmen können. Ich hab keine Ahnung mehr, was da gemacht wurde... vermutlich ja schon auch Grammatikvermittlung 🤔

  • Denke, Basisgrammatik ist an der Uni eher weniger Thema.


    Muss aber zugeben, dass ich an den Didaktikkursen wenig Spaß hatte und da sicherlich mehr hätte mitnehmen können. Ich hab keine Ahnung mehr, was da gemacht wurde... vermutlich ja schon auch Grammatikvermittlung 🤔

    An meiner Uni wurde das Thema Grammatikvermittlung auch nicht in der Didaktik angeboten. Zumindest nicht in den Kursen, die ich besucht habe. :-/

  • Methodisch halt. Ziegesar war damals hoch im Kurs. Aber man hat grammatikalische Strukturen an sich nicht nochmal zerlegt, meine ich.

    Ziegesar habe ich jetzt in meinem Fachseminar kennengelernt und die anderen Refis, die an der selben Uni studiert haben, kannten das so auch nicht. Eine Kollegin, die jetzt mit dem Ref fertig ist, hat selbst bei ihrem Fachleiter von Ziegesar etc. nichts gehört und macht Grammatik nur nach dem Buch. In den UBs hat sie Grammatik einfach nicht gezeigt. Ich finde es schwierig, wie unterschiedlich die Voraussetzungen sind. Man weiß ja zu Beginn des Studiums nicht, wie „gut“ die eigene Fakultät einen ausbildet..

  • Ich finde es schwierig, wie unterschiedlich die Voraussetzungen sind. Man weiß ja zu Beginn des Studiums nicht, wie „gut“ die eigene Fakultät einen ausbildet..

    Unter anderem dafür gibt es ja das Referendariat, um da alle einigermaßen auf den gleichen Stand zu bringen. Außerdem sind wir ja alle erwachsene Menschen, die mal ein Buch zur Hand nehmen können, wenn ihnen ein wichtiger Didaktiktrend entgangen ist.

  • Unter anderem dafür gibt es ja das Referendariat, um da alle einigermaßen auf den gleichen Stand zu bringen. Außerdem sind wir ja alle erwachsene Menschen, die mal ein Buch zur Hand nehmen können, wenn ihnen ein wichtiger Didaktiktrend entgangen ist.

    Genau, man ist nie fertig. Man lernt bis zum Schluss neue Dinge. Sonst würde ich noch mit der Matrize... :rotwerd:

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