Formative Evaluation als Brücke zwischen Lehren und Lernen

  • Hallo zusammen,


    ich habe mein Wissen zu der formativen Evaluation aufgefrischt. Die niederschwelligen bzw. nicht auf Materialschlachten ausgerichteten Strategien und Techniken der formativen Evaluation können Unterrichtsstunden schnell optimieren.

    Die einschlägige Literatur ist jedoch überwiegend nur in englischer Sprache erhältlich. Aber auf meiner Homepage können interessierte Lehrende nun alles auf Deutsch nachlesen: https://educerio.com/formativeevaluation

    Außerdem verweise ich auf zwei Episoden einer sehr sehenswerten BBC-Dokumentation. :aufgepasst:


    Freundliche Grüße

    Philipp

  • Die No-Hands-Up-Technik: mehr Aufmerksamkeit und Lernendenbeteiligung

    🧐 Im „normalen“ Unterricht können Schüler:innen abtauchen und aus dem Lernen aussteigen. Dabei kann eine kleine Anpassung dies verändern.

    ☀️Im Moment darf ich drei Inklusionskinder an einer Regelschule begleiten. An der Regelschule habe ich in der Vergangenheit einige Jahre gearbeitet.

    ⚡️Die Rückkehr in das Regelschul-Setting brachte jedoch bereits in der ersten Schulwoche eine Ent-Täuschung (wörtlich zu verstehen) mit sich: Im Durchschnitt kommt ein/e Schüler:in dreimal pro Unterrichtsstunde zu Wort und meist handelt es sich stets um die gleichen Kinder und Jugendlichen, die sich melden.

    ⚡️Das stellt ein großes Problem dar. Kinder und Jugendliche können deshalb nicht nur eine entspannte Zeit haben, sondern gänzlich aus dem Lernen aussteigen. Denn laut Daniel Willingham ist „memory a residue of thought“. Was bleibt aber hängen, wenn Schüler:innen nicht mitdenken oder nicht mitdenken müssen?

    🤓Dabei kann schon eine kleine Veränderung eine Verbesserung mit sich bringen .
    Die Lehrkraft setzt die No-Hands-Up-Technik von Dylan Wiliam ein.

    🤨Wie funktioniert die No-Hands-Up-Technik?
    Die Schüler:innen dürfen sich nicht mehr melden, außer um eine Frage zu stellen. Die Aufgabe der Lehrkraft besteht darin, die Schüler:innen nach dem Zufallsprinzip aufzurufen. Auf diese Weise hat jede/r Schüler:in „online“ zu bleiben, da sie/er jederzeit aufgerufen werden kann.


    Mehr Informationen zur formativen Evaluation gibt es auf meiner Homepage.

  • Dazu kann man auch die Methode Think-Pair-Share nutzen. Schon kann sich keiner rausziehen und das Gefühl des "bloßgestellt" Werdens, wenn man die Antwort nicht weiß, wird minimiert.


    Bei Deiner Methode hätte ich Sorge, dass die SuS in Angststarre verfallen, da das für einige echter Stress ist, wenn sie vor der Klasse was sagen müssen.

  • Ich nehme sowieso alle S dran. Ob sie sich mélden und nicht *schulterzucksmily*.

    Ich nicht, das macht die ganze Atmosphäre kaputt und wirkt sich am Ende nur negativ aus. Es gibt genug andere Möglichkeiten um herauszufinden ob die einzelnen was gelernt haben.


    Ich habe das als Schüler selbst immer gehasst. Außerdem gibt es vielfältige Gründe wieso man sich nicht meldet.

  • Als jemand, der sich in der Schule quasi nie gemeldet hat, hätte ich mich dieser Ansatz extrem genervt. Nur weil man keine Lust hat sich zu beteiligen, heißt das nicht, dsss man nicht mitdenkt.

  • Und wie soll ich sonst als Lehrer herausfinden, ob alle S noch mitkommen? Am Ende doch wieder summarisch durch Klausuren? Dann ist es allerdings zu spät.

    Dass ich in einer berufsbildenden Schule bin mag das beeinflussen. Meine S sind alle mindestens 16, die meisten eher 17 - 18.

  • Ich war über 10 Jahre in der Integration, jetzt Integration.

    Für alle Kinder, die damals in einer meiner Klassen waren, wäre dies der Super-Gau gewesen.

    Besonders für Autisten, oder Kinder mit Mutismus ist Vorhersagbarkeit sehr wichtig.

    Das ständige Angespannt sein, ob oder ob nicht aufgerufen zu werden, hätte zu dauernden Overloads oder Meltdowns, wenn nicht gar Shutdowns geführt.

  • Und dann haben 6 von den 10, die sich nie melden, eine 5 oder 6. Ist das besser, als genau denen zwischendurch auf den Zahn zu fühlen?

  • Gut, dass wir das flexibel handhaben dürfen. Das klappt, wie ja beschrieben, nicht für jede Lerngruppe und jede Situation, hängt vom Fach ab, der Klassengröße und und und. Und das gilt für jede Technik. Mal ganz abgesehen davon, dass es schwierig sein dürfte, in einem Unterricht das Händeheben zu verbieten, was in anderen Unterrichten gewünscht ist.


    In China gibt es so eine Art Stirnbänder, mit denen die Aufmerksamkeit der Lernenden permanent gemessen und getrackt wird. Mit entsprechenden Konsequenzen.


    Wie schön, dass man sich bei uns ab und zu mal rausziehen darf, ohne gleich Sanktionen zu fürchten.


    Auch ein Grund übrigens, dass Lehrkräfte immer wieder mal Fortbildungen machen sollten. Schon um die Erfahrung zu machen, wie sich das anfühlt, gegängelt und beobachtet zu werden und ständig auf Sendung zu sein zu müssen - ohne die Sendung zu bestimmen, so wie wir das als Unterrichtende machen.


    Ich mache manchmal einfach einen Stuhlkreis und dann muss jeder nacheinander was sagen. Und dann kommt Projektarbeit, Erklärungsphase, Unterrichtsgespräch ... Fragen stelle ich vor allem, um Denkprozesse anzuregen, nicht um zu prüfen.

  • Und dann haben 6 von den 10, die sich nie melden, eine 5 oder 6. Ist das besser, als genau denen zwischendurch auf den Zahn zu fühlen?

    Dazu muss man diese aber nicht im plemun dran nehmen.


    Gibt es bei dir keine Arbeitsphasen?

  • Darf ich mal nachfragen, was passiert, wenn du SuS, die sich nicht melden, einfach drannimmst? Erhältst du dann eine "vernünftige" Antwort? Ich mache das zwar auch ab und zu, meist um das Unterrichtsgespräch in Gang zu halten, habe aber die Erfahrung gemacht, dass sehr häufig gar keine Antwort kommt, sondern nur ein Schulterzucken, ein "Keine Ahnung!" o. ä. Das bringt uns ja dann beide nicht weiter, weder den/die Schüler*in noch mich. Denn bei einer solchen Reaktion weiß ich ja immer noch nicht, ob Person nun in Panik geraten ist, weil ich sie so plötzlich drangenommen habe, oder die Antwort wirklich nicht weiß, weil sie etwas nicht verstanden hat (also nicht "mitgekommen" ist), oder aber einfach gerade nicht aufgepasst hat oder nur zu faul ist sich zu melden und sich nicht beteiligen möchte oder...

    Als jemand, der sich in der Schule quasi nie gemeldet hat, hätte ich mich dieser Ansatz extrem genervt. Nur weil man keine Lust hat sich zu beteiligen, heißt das nicht, dsss man nicht mitdenkt.

    Ich habe mich in der Grundschule und Sek I auch nur sehr selten gemeldet, weil ich einfach sehr schüchtern war und Angst hatte, bei einer falschen Antwort von den Mitschüler*innen ausgelacht oder von der Lehrkraft "angepflaumt" zu werden. Das hat sich erst ab der 11. Klasse geändert, als ich selbstbewusster wurde. Bis dahin waren meine mündlichen Leistungen immer sehr viel schlechter als die schriftlichen. Aufgepasst und mitgedacht habe ich aber trotzdem.

    to bee or not to bee ;) - "Selbst denken erfordert ja auch etwas geistige Belichtung ..." (CDL)

    2 Mal editiert, zuletzt von Humblebee () aus folgendem Grund: Formulierungs-/Grammatikfehler ausgebessert

  • Für mein Selbstbild waren mir meine Klausurnoten wichtig, alles andere hat mich als Schüler nicht sonderlich interessiert. Aus Lehrersicht sehe ich es heute auch anders, damals habe ich aber wirklich einfach keine Lust gehabt, mich mündlich zu beteiligen und hab im Unterricht auch oft lieber gelesen oder sowas.


    Und dann haben 6 von den 10, die sich nie melden, eine 5 oder 6. Ist das besser, als genau denen zwischendurch auf den Zahn zu fühlen?

    Man geht ja auch mal rum und bekommt einen Eindruck, ob Schüler in Arbeitsphasen mit den Aufgaben klarkommen, fragt "auf kurzem Wege", ob es irgendwo Schwierigkeiten gibt, lässt sich mal Ausarbeitungen zeigen usw.

  • Ich rufe immer wieder auch Schüler auf, die sich nicht selbst melden. Gerade bei Hausaufgaben besprechen ich mit der Klasse auch gerne fehlerhafte oder unvollständige Lösungen, da gibt es in der Regel mehr Wissenszuwachs als wenn nur die korrekten Ergebnisse vorgelesen werden.

    Trotzdem kommen meist diejenigen dran, die sich melden, weil diese sonst auch alle Motivation sich zu melden verlieren.

  • Für mein Selbstbild waren mir meine Klausurnoten wichtig, alles andere hat mich als Schüler nicht sonderlich interessiert. Aus Lehrersicht sehe ich es heute auch anders, damals habe ich aber wirklich einfach keine Lust gehabt, mich mündlich zu beteiligen und hab im Unterricht auch oft lieber gelesen oder sowas.

    In den meisten meiner LG (von der BFS über Berufsschule bis zum BG) besteht die Zeugnisnote zu 40% aus der schriftlichen Leistung und zu 60% aus der sonstigen Mitarbeit, die wiederum hauptsächlich aus der mündlichen Mitarbeit gebildet wird. Für jedeN S notiere ich mir nach jeder Stunde eine Mitarbeitsnote.

    5 Punkte oder eine glatte 4, also ausreichend, bekommt, wer nicht stört, pünktlich ist, sich an die Klassenregeln hält und auf Nachfrage halbwegs passend antwortet.

  • sonstigen Mitarbeit, die wiederum hauptsächlich aus der mündlichen Mitarbeit gebildet wird

    Das machst du so. Die mündliche Mitarbeit ist aber nur ein Teil der sonstigen Leistungen.


    Das dreht sich heute zum Glück in Richtung, der wirklichen Leistungen und nicht nur zu "viel melden=gute Note". Das zeigt nämlich nicht das richtige Bild.

  • In den meisten meiner LG (von der BFS über Berufsschule bis zum BG) besteht die Zeugnisnote zu 40% aus der schriftlichen Leistung und zu 60% aus der sonstigen Mitarbeit, die wiederum hauptsächlich aus der mündlichen Mitarbeit gebildet wird. Für jedeN S notiere ich mir nach jeder Stunde eine Mitarbeitsnote.

    5 Punkte oder eine glatte 4, also ausreichend, bekommt, wer nicht stört, pünktlich ist, sich an die Klassenregeln hält und auf Nachfrage halbwegs passend antwortet.

    Das ist großzügig. Ich hab mir seinerzeit sämtliche Noten durch Sonstige Mitarbeit halbiert, war auch ok.

    Fürs Nichtstören und Anwesendsein gibts bei mir heute auch keine 4 - das ist keine bewertbare Leistung, sondern erstmal selbtverständlich.


    Dafür werte ich in die Sonstige Mitarbeit aber nicht nur primär mündliche Beteiligung, sondern alles, was für mich an fachlicher Leistung irgendwie sichtbar wird - Engagement in Gruppenarbeiten, Einzelarbeiten, Stundenprotokolle ( wenn sie der restlichen Gruppe zur Verfügung gestellt werden), abgegebene Ausarbeitungen, etc. Gerade Letzteres nutzen introvertiere Schüler auch gerne.

  • Ihr seid spitze!


    Vielen Dank für die vielen Rückmeldungen. Mir gefällt vor allem, dass wir unterschiedlicher Meinung sind.


    In der Tat ist die No-Hands-Up-Technik kein Allheilmittel. Aber begleitend zu dieser Technik soll auch eine positive Fehlerkultur angebahnt werden. Es soll normal sein, etwas nicht zu wissen und sich etwas zu erarbeiten. Oder wie Dylan Wiliam es ausdrückt: „Clever is not something you are, clever is something you get.“

    Damit geht auch die Absicht einher, ein growth mindset bei den Lernenden zu entwickeln.

    Gute Leistungen und Erfolg sollen nicht mehr als etwas angesehen werden, das man hat oder nicht hat.


    Besonders interessant ist, dass sowohl stärkere als auch schwächere Schüler:innen von der Technik profitieren. Das kann man in der ersten Episode des „Classroom Experiment“ ab Minute 27:45 bestaunen:

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    Damit kein/e Schüler:in bloßgestellt wird, empfehlen Wiliam und Leahy die No-Opt-Out-Technik. Diese Technik ist effektiv und leicht einzusetzen.

  • No-Opt-Out-Technik

    Wissen Lernende keine Antwort auf eine Frage, kann die Lehrkraft Mitschüler:innen die gleiche Frage stellen. Mit den Antworten der Mitschüler:innen kehrt die Lehrkraft zur/m ersten Lernenden zurück, damit diese:r die Frage auf Grundlage des neuen Wissens beantworten und die Antwort begründen kann.



    Des Weiteren kann die Lehrkraft Lernenden mit Schwierigkeiten, auf eine Frage zu antworten, mehrere Antwortmöglichkeiten vorgeben, aus der eine auszuwählen ist. Auch die aus „Wer wird Millionär“ bekannten Publikums- und Telefonjoker stellen Erfolg versprechende Techniken zur Optimierung von Unterrichtsgesprächen dar.

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