Wirbel um Inklusions-Gutachten

  • https://www.news4teachers.de/2…behindert-diagnostiziert/


    Könnt ihr das bestätigen? Ich habe diesen Eindruck schon länger, sowohl im Primar- als auch im Sekundarbereich. Offiziell gibt das natürlich niemand zu, aber es scheint dennoch gängige Praxis zu sein. So lange einzelne Geld- und Personaltöpfe an der Anzahl der Kinder mit Förderbedarf festgemacht werden, ist das auch nicht verwunderlich.

  • Nein, kann ich nicht bestätigen. Wir haben vielmehr massiv zu kämpfen, um Eltern überhaupt erst einmal davon zu überzeugen entsprechende Begutachtungen zu durchlaufen, obgleich deren Kinder massive Probleme haben, die wir nicht auffangen können und die einer anderen Art der Förderung bedürften.


    Dort, wo bei uns an der Schule (SEK.I) SuS erkennbar nicht (mehr) auf ihren Förderstatus angewiesen sind, empfehlen wir als Klassenkonferenzen sehr gerne den Eltern diesen aufheben zu lassen (dieses Schuljahr 2x erlebt), was dann auch immer gerne umgesetzt wird von den Eltern und auch den betroffenen SuS.


    Wir haben an der Realschule keinen Mehrwert davon willkürlich einen Förderstatus festsetzen zu lassen, der nicht angebracht wäre (welche Eltern würden das auch mitmachen, wenn das nicht wirklich angezeigt wäre beim eigenen Kind) und können das auch gar nicht (BW).


    Mich würde an der Stelle sowohl interessieren, was da wie ganz genau inhaltlich von welchen Wissenschaftlern beleuchtet und erfragt wurde, wie repräsentativ die befragte Zielgruppe zumindest mal für NRW war, sowie wie viele Schulen das letztlich tatsächlich betroffen hat, die angegeben haben Lücken im System zu nutzen, um unzutreffende Förderbedarfe zur Generierung zusätzlicher Personalstunden zuzuschreiben.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Also zumindest in Bayern entscheidet nicht die Schulaufsicht, sondern schlussendlich die Eltern nach Beratung durch eine Sonderschullehrkraft, wohin das Kind gehen soll.

    Ich weiß auch nicht was das heißen soll, "als lernbehindert diagnostiziert".

    Meinst du jetzt nur die Schüler, die an der Regelschule eine sonderpädagogische Förderung bekommen oder jene, die dann an die Förderschule gehen?

  • Ich bin mittendrin e.V. sehr positiv gegenüber eingestellt. Die Kritik hier geht aber für mich am Problem vorbei bzw. sehe ich das Problem nicht in zu leichtfertig vergebenen Förderschwerpunkten. Es ist aber auch ein sehr spannendes Thema. Das Gutachten ist sowohl komplett als auch in einer Kurzfassung (die kann ich allen empfehlen zu lesen) online verfügbar und ich habe dort wenig gelesen, was für einen "Skandal" spricht. Das wesentliche Problem ist natürlich genau das, was du benennst, mittendrin e.V. kritisert und was ich als Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma kennengelernt habe. Nur mit Etikett bekommt man Ressourcen, das Etikett kann aber zu Stigmatisierung führen und widerspricht eigentlich der Kernidee von Inklusion. Das ist aber auch der Subtext dieses Gutachtens.


    Ich habe dieses Jahr zwei Verfahren für den Förderschwerpunkt Lernen mitbeantragt und -bearbeitet. Die Kinder haben die Lernziele der Schuleingangsphase nicht erreicht. Ein Kind hat bereits eine dreijährige Verweildauer in der Schuleingangsphase, bei einem Kind ist auch bei einer dreijährigen Schuleingangsphase nicht zu erwarten, dass es die Lernziele erreicht. Mein Ziel im Unterricht ist eine Individualisierung und Differenzierung, gleichzeitig bin ich aber natürlich an die Lehrpläne gebunden. An der Stelle ist es dann für die Kinder und für mich sehr sinnvoll, das Verfahren zu eröffnen, damit ich vom Lehrplan abweichen und so weiter auf das passende Niveau individualisieren und differenzieren kann.


    mittendrin e.V. sieht dabei "Folgen, die das gesamte Leben prägen" und das Folgeproblem, dass "dann [...] nach deutlich reduzierten Lehrplänen unterrichtet [wird]. Der Weg zurück zum Regel-Lehrstoff gelingt dann nur noch in Ausnahmefällen." Kann ich nachvollziehen, aber die eine bis zur Inklusion betriebene Alternative wäre ja, die Kinder auf einer Förderschule zu separieren. Die zweite Alternative wäre, die Kinder mit dem Lernstoff, den sie nicht schaffen können, weiter zu überlasten. Beides ist aus Sicht des Kindes und der Schule nicht wünschenswert und nicht im Sinne der Inklusion.


    Im nach meiner Meinung Optimalfall wäre ein AO-SF und damit eine Etikettierung nicht notwendig, damit ich die nötigen Ressourcen - hier vor allem die Möglichkeit vom Lehrplan zugunsten der realistischen Lernziele der einzelnen Kinder abweichen kann - bekomme. Der Normalzustand sollte sein, dass dies für alle Kinder gilt und ich wesentlich niedrigschwelliger diese Möglichkeiten nutzen kann. Momentan ist das AO-SF aber die einzige Möglichkeit, alle Kinder auf ihrem möglichen Niveau zu unterrichten und deswegen eindeutig etwas Positives für alle Seiten. Ganz sicher kann ich sagen, dass wir nicht mehr Anträge stellen, als notwendig wären. Im Gegenteil bekamen wir von den externen Sonderpädagog*innen mehr als einmal zurückgemeldet, dass ihnen bei der Hospitation weitere Kinder aufgefallen sind, die auch einen Förderbedarf haben könnten, für die wir keinen Antrag gestellt haben. Soweit ich informiert bin, erhalten wir aber auch keine festen weiteren Ressourcen (finanziell oder personell), wenn wir mehr Kinder mit dem Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung oder Lernen hätten.


    Was ich und was wir als Schule aus dem Gutachten mitnehmen wollen, ist, dass wir die Kinder mit Lernrückständen natürlich früher durch standardisierte Diagnostik erkennen und dann passende, wirksame Förderangebote schaffen wollen. Das Vorbild Kanada hatte ich ja bereits in einem anderen Thread erwähnt. Das Gutachten wirft natürlich einmal mehr den Fokus auf den Zwiespalt zwischen standardisierten Lehrplänen, etikettierenden rechtlichen Vorgaben und einem engen Inklusionsbegriff im System Schule und der Kernidee der Individualisierung und einem weiten Begriff der Inklusion. Da wird es auch keine perfekte Lösung geben, Inklusion ist auch insofern mehr ein Weg als ein abschließbares Ziel.

  • welche Eltern würden das auch mitmachen

    In Niedersachsen haben Eltern überhaupt kein Mitspracherecht bei dem Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs. Sie können einen solchen weder verhindern, aufheben oder einfordern. Das läuft alles schulintern. Eltern werden lediglich informiert. Außerdem werden in Niedersachsen Zusatzbedarfstunden u. a. an die Anzahl der Kinder mit Förderbedarf gekoppelt vergeben. Das verleitet schon die eine oder andere Schule, ein paar Gutachten mehr zu verfassen.


  • Meinst du jetzt nur die Schüler, die an der Regelschule eine sonderpädagogische Förderung bekommen oder jene, die dann an die Förderschule gehen?

    Gemeint sind ausschließlich Kinder, die eine Regelschule besuchen.

  • Das verleitet schon die eine oder andere Schule, ein paar Gutachten mehr zu verfassen.

    Woher weißt du das? Macht deine Schule das dergestalt? Von wie vielen anderen Schulen weißt du gesichert, dass sie das derart handhaben?


    Sitzen in Niedersachsen Eltern nicht im Zweifelsfall sogar mit in Notenkonferenzen oder Klassenkonferenzen, müssten also insofern darüber mitentscheiden können, ob für ihre Kinder derartige Bedarfe geprüft werden?

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Also unsere Stunden an den Regelschulen sind derart knapp, dass man dem eigentlich Bedarf kaum hinterherkommt. Da werden Fälle oft wochen- bzw monatelang geschoben und wenn dann tatsächlich eine Förderung am Kind passiert, ist sie meist zu kurz, weil... siehe Anfang.

  • Woher weißt du das? Macht deine Schule das dergestalt? Von wie vielen anderen Schulen weißt du gesichert, dass sie das derart handhaben?


    Sitzen in Niedersachsen Eltern nicht im Zweifelsfall sogar mit in Notenkonferenzen oder Klassenkonferenzen, müssten also insofern darüber mitentscheiden können, ob für ihre Kinder derartige Bedarfe geprüft werden?

    Mir sind nur zwei benachbarte Schulen bekannt, die so verfahren und auch darüber sprechen. Der Inhalt des Artikels hat mich dazu gebracht zu fragen, ob das Einzelfälle sind oder nicht.


    Eltern sitzen in Noten- bzw. Klassenkonferenzen, haben dort aber kein Stimmrecht. Allerdings wird über einen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf ohnehin nicht in einer Klassenkonferenz abgestimmt. Die Schulleitung leitet das Verfahren ein, die beteiligten Lehrkräfte schreiben das Gutachten, das Gutachten geht an die Schulbehörde, die entscheidet dann darüber, ob das Kind einen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf bekommt oder nicht. Eltern sind zu keinem Zeitpunkt in die Entscheidung einbezogen. Sie werden lediglich infomiert.

  • https://www.news4teachers.de/2…behindert-diagnostiziert/


    Könnt ihr das bestätigen? Ich habe diesen Eindruck schon länger, sowohl im Primar- als auch im Sekundarbereich. Offiziell gibt das natürlich niemand zu, aber es scheint dennoch gängige Praxis zu sein. So lange einzelne Geld- und Personaltöpfe an der Anzahl der Kinder mit Förderbedarf festgemacht werden, ist das auch nicht verwunderlich.

    Es mag durchaus sein, dass früher im dreigliedrigen Schulsystem ohne Inklusion der ein oder andere sehr schwache Schüler durchs Raster rutschte und z.B. als sehr schwacher Hauptschüler mitgezogen und irgendwann abgeschult wurde, ohne dass ein besonderer Förderbedarf festgestellt und anerkannt wurde, da dies ohnehin keine Auswirkung gehabt hätte. Und es mag auch sein, dass genau ein solcher Schüler heute eher nicht mehr durchs Raster fällt, sondern da schon einmal eher ein entsprechendes Verfahren zur Feststellung eingeleitet wird, was für den Betreffenden nicht selten zu besseren Fördermöglichkeiten bezogen auf einen zu erreichenden Abschluss führen kann.


    Meines Erachtens muss man bei diesem Gutachten etwas zwischen den Zeilen lesen und genau im Blick behalten, wer hier der Auftraggeber war und welche Intentionen damit verfolgt werden. Es mag auch sein, dass das dem Ministerium, welches dieses Gutachten in Auftrag gegeben hatte, nicht so passt, doch mehr Ressourcen für Inklusion zur Verfügung stellen zu müssen, als man sich vorher schön gerechnet hatte. Es ist natürlich leichter, die "Schuld" dafür dann bei anderen (in diesem Fall den Schulen) zu suchen, als bei sich selbst mal auf die Auswirkungen bildungspolitischer Entscheidungen zu schauen.


    Und nein: ich persönlich kann keineswegs bestätigen, dass bei Schülern, die eigentlich keinen Förderbedarf hätten, Verfahren angestoßen werden, um mehr Ressourcen abzugreifen. Es ist vielmehr so, dass sensibler darauf geschaut wird, welcher Schüler einen solchen Bedarf tatsächlich hat. Für Schulen ist eine hohe Quote von Förderschülern ohnehin ein zweischneidiges Schwert: Zwar werden hier u.U. mehr Stunden generiert, diese werden aber zweckgebunden auch direkt wieder verbraucht. Gleichzeitig will man als Schule sicher nicht den Eindruck erwecken, man habe komplette "I-Klassen", wenn man im Wettbewerb mit anderen Schulen steht.

  • In SH werden bis auf wenige Ausnahmen alle Kinder mit dem Förderschwer Lernen inklusiv an Regelschulen beschult. Meiner Erfahrung nach ist das auch gewöhnlich akzeptiert, wird durch die Lehrkräfte vom FöZ unterstützt und führt, wie tibo schon schrieb, zur Erleichterung, da der Leistungsdruck weg ist. Und mein Eindruck ist nicht, dass mehr Gutachten geschrieben werden oder fälschlich Gutachten geschrieben werden, um Kinder ans Förderzentrum abzuschieben oder höhere Stundenzuweisungen zu bekommen. Ich beobachte aber etwas anderes:

    Emotional-Soziale Förderschwerpunkte führen häufig dazu, dass die Kinder nicht nach Regelschulzielen beschult werden können, weil sie oft nicht in der Lage sind, dem Unterricht zu folgen oder überhaupt am Unterricht teilzunehmen. Normal müssen sie aber regulär benotet werden. Hier gibt es dann nur die Möglichkeit, dem Kind einen Förderschwerpunkt Lernen zu diagnostizieren, obwohl das Kind vielleicht die kognitiven Möglichkeiten hätte, aber aus anderen Gründen nicht lernen kann. An der Stelle sehe ich zum einen den Bedarf, da mal nachzubessern und davon abzuweichen, zielgleich zu benoten, und zum anderen glaube ich, wenn geschummelt wird, dann im Bereich dieser Grauzone…

  • In Niedersachsen haben Eltern überhaupt kein Mitspracherecht bei dem Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs. Sie können einen solchen weder verhindern, aufheben oder einfordern. Das läuft alles schulintern. Eltern werden lediglich informiert. Außerdem werden in Niedersachsen Zusatzbedarfstunden u. a. an die Anzahl der Kinder mit Förderbedarf gekoppelt vergeben. Das verleitet schon die eine oder andere Schule, ein paar Gutachten mehr zu verfassen.

    Das stimmt überhaupt nicht.


    1. Eltern werden über das Einleiten des Verfahrens informiert, in der Regel hat es zuvor bereits Gespräche gegeben.

    2. Im Rahmen des Gutachtens gibt es ein Anamnese-Gespräch.

    3. Wenn möglich können Eltern Gutachten, Berichte oder anderes von Ärzt:innen, Therapeut:innen einreichen und diese werden dann auch im Gutachten berücksichtigt.

    4. Das verfasste Gutachten geht den Eltern vorab schriftlich zu. Anschließend können sie eine Förderkommission beantragen, die dann tagt.

    5. Innerhalb der Kommission können die Eltern sich zum Verfahren und zum Gutachten äußeren und sagen, was sie dazu sagen möchten. Dies wird im Protokoll genau so aufgenommen. Das Protokoll wird auch von den Eltern unterschrieben.

    6. Die Akte geht mit dem Protokoll an die Landesschulbehörde, die letztlich entscheidet. Die Eltern erhalten den Bescheid mit Angaben zu Möglichkeiten des Widerspruchs.

    (7. Dem Widerspruch kann/wird stattgegeben.)

    8. Besteht ein Unterstützungsbedarf muss dieser halbjährlich in der Klassenkonferenz (Zeugniskonferenz) angesprochen, erörtert und bestätigt werden. Und ja, in NDS sitzen Elternvertreter:innen in diesen Konferenzen. (Diskussionen dazu bitte im anderen Thread weiterführen.)

    9. Die Eltern des Kindes können beantragen, dass ein festgestellter sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf erneut überprüft wird. Auf Antrag der Eltern erfolgt somit ein neues Verfahren.


    Dazu kommt:

    Das Verfahren läuft nicht schulintern.

    Die Schulleitung der Regelschule bestimmt eine Lehrkraft, zumeist die Klassenlehrerin.

    Die Schulleitung der (betreffenden) Förderschule bestimmt eine Lehrkraft. Diese kann an dieser Schule tätig sein, muss sie aber nicht. Die Förderschullehrkraft spricht mit den Eltern und mit dem Kind. Sie sammelt Informationen und verschafft sich ein Bild über das Kind in der Klasse und auch über die Leistungen, die das Kind in 1:1-Situation erbringen kann.


    Und:

    Zusatzbedarfsstunden gibt es nur in wenigen Fällen:

    Für die Schwerpunkte Lernen, Sprache und ESE gibt es keine zusätzlichen Stunden.

    Für die Schwerpunkte KME, Hören und Sehen kann es 3 Stunden geben, diese können aber oft nicht erteilt werden, weil die Schulen im Flächenland nicht durch die Lehrkräfte erreicht werden können. Die Fahrzeit frisst die Förderzeit auf. Dann gibt es eine Beratung durch den Mobilen Dienst, ggf. jährliche Besuche.

    Für den Schwerpunkt GE gibt es bis zu 5 Stunden, auch diese stehen auf dem Papier, kommen in den Schulen aber nicht immer an.

    Gerade für das GE-Gutachten müssen einige Unterlagen vorliegen. Es ist ja nicht so, dass man einem Kind eine geistige Beeinträchtigung einfach so bescheinigen könnte.

  • Ich habe meinen Teil schon bei N4t geschrieben.


    Das Land NRW hat vorgegeben, dass es das Ettiketierungs-Dilemma gäbe. Das steht schon im Auftrag des Gutachtens.


    Es wurden Wissenschaftler:innen gefunden, die im RAhmen dieses Auftrages

    a) den wissenschaftlichen Diskurs ausgewertet haben

    b) andere Wissenschaftler:innen als Expert:innen befragt haben

    c) Gutachten gelesen und bewertet haben.


    Lehrkräfte wurden nicht befragt.

    An den Gutachten wurde einiges kritisiert, letztlich setzt doch aber das Land die Vorgaben für die Gutachten. An diesen Vorgaben orientieren sich die Lehrkräfte.


    Es würde fehlen, dass das System und die Ressourcen nicht beleuchtet werden.

    In NDS muss man als Lehrkraft im Rahmen des Gutachtens belegen, dass man alle Fördermöglichkeiten ausgeschöpft hat. Man legt also dar, welche Förderschritte man bereits 1-2 Jahre lang durchgeführt hat, ohne dass es zielführend war und das Kind dem Regelunterricht im Ansatz folgen kann. Würde man schreiben, dass man keine Ressourcen hatte und das Kind nur in der Ecke gesessen hätte, würde der Unterstützungsbedarf sicher nicht festgestellt werden. Mit Förderplänen und Arbeitsproben, die in der Akte enthalten sind, muss man dies belegen, auch die Zeugnisse werden mit eingereicht. Würde eine Lehrkraft das Gutachten entgegen der Leistungen des Kindes anstreben, müsste die Lehrkraft ja die Förderpläne und die Zeugnisse fälschen.


    Meiner Beobachtung nach gibt es mehr Kinder mit Unterstützungsbedarf.

    - Kinder haben wirklich Defizite, Familien fangen dies nicht auf, da sie den Bedarf nicht sehen, nicht verstehen oder dem nicht begegnen können.

    - Lehrkräfte kennen sich besser aus, da sie durch die Inklusion und FoBi sensibilisiert und geschult sind.

    - Förderung und Ressourcen gibt es in den Schulen nicht, dafür aber mehr Herausforderungen.

    - Immer mehr Unterricht wird durch Vertretungen abgedeckt.

    Aber das alles stand gar nicht zur Debatte. Das Land wollte wohl über das Gutachten ankündigen, dass

    a) die Überprüfungsverfahren geändert werden

    und

    b) die Ressourcen nicht reichen, nicht aufgestockt werden und in Zukunft von den Förderschulen zu den Regelschulen verschoben werden sollen

    und

    c) die Lehrkräfte die "Freiheit" bekommen, es zu richten. (Hinterher besagt dann wieder ein Gutachten, dass die Lehrkräfte schlecht arbeiten).


    Der Landesrechnungshof in NDS hat übrigens schon vor Jahren kritisiert, dass in diese Verfahren mehr als 40 Lehrerstunden je Verfahren in Anspruch nehmen und dass dies angesichts der hohen Quote positiver Bescheide verschwendet ist, wenn doch die Regelschullehrkräfte so zielsicher diagnostizieren. Da in dem Schreiben aus NRW auch der Landesrechnungshof genannt wird, muss es auch in NRW dazu eine Äußerung gegeben haben.

  • Ich finde es gut, dass das Thema hier auch zur Sprache kommt. In der letzten Ausgabe der Zeitschrift für Heilpädagogik gab es einen interessanten Artikel von Hans Wocken dazu.


    Ich denke, eines der Hauptprobleme ist, dass es - je nach Förderschwerpunkt - wenige objektive Kriterien gibt, wann ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt. Die Diagnostik ist hier je nach Schulamtsbezirk und auch je nach Schule (teilweise sogar je nach Gutachter) sehr unterschiedlich: Der eine macht Intelligenztest A und Schulleistungstest B, der andere Intelligenztest C und Schulleistungstest D (analog auch Verfahren bzgl. Sprache, Sozialverhalten oder Motorik), der dritte führt gar keine standardisierten Tests durch. Gleichzeitig muss man aber auch fragen, inwieweit die Diagnostik vereinheitlicht werden kann, da die Problemlagen, die zum gleichen Förderschwerpunkt führen können, ja doch sehr unterschiedlich sein können.


    Ein anderer Aspekt, warum mehr SuS einen sonderpädagogischen Förderbedarf attestiert bekommen, ist meines Erachtens auch darin zu suchen, dass es viele Kinder gibt, die im Fluchtkontext aus Kriegsgebieten oftmals traumatisiert nach Deutschland kommen. Und ein weiterer Aspekt im Kontext veränderte Kindheit allgemein.


    Man könnte im Sinne der Prävention natürlich auch überlegen, ob man den Schülerkreis, für den den die Sonderpädagogik mitverantwortlich ist, weiter definiert, wie es einige andere Länder (z. B. UK oder in Skandinavien) tun, wo ein erheblich größerer Anteil der Schüler zumindest zeitweise sonderpädagogische Unterstützung erhält.

    Aber das ist eine politische Frage und müsste entsprechend natürlich auch in Konzepte umgesetzt und vor allem finanziert werden.

  • https://www.news4teachers.de/2…behindert-diagnostiziert/


    Könnt ihr das bestätigen? Ich habe diesen Eindruck schon länger, sowohl im Primar- als auch im Sekundarbereich. Offiziell gibt das natürlich niemand zu, aber es scheint dennoch gängige Praxis zu sein. So lange einzelne Geld- und Personaltöpfe an der Anzahl der Kinder mit Förderbedarf festgemacht werden, ist das auch nicht verwunderlich.

    Nein kann ich nicht bestätigen. Es ist in meinem Regierungsbezirk ziemlich schwer einen Förderschwerpunkt zu verhängen und es kommt immer ein Fremdgutachter dazu. Ich sehe nicht, wie sich da eine Schule, wie unterstellt, Vorteile verschaffen könnte.


    Was allerdings anders als früher ist, ist dass durch die Inklusion mehr sonderpädagogische Fachkompetenz an den Schulen vorhanden ist und daher vermutlich weniger Kinder unter dem Radar durchrutschen.


    Würde ich die Studie genauso bösartig interpretieren, wie die (laut Presse) selbst ihre Ergebnisse interpretieren, dann fiele mir vielleicht ein, dass die Studie eine Ablenkungsstrategie ist, um das totale Versagen des Landes bei der Ausbildung der nötigen Anzahl an Sonderpädagogen zu verdecken.

  • einen Förderschwerpunkt zu verhängen

    Ein Förderschwerpunkt ist doch keine Strafe?!

    „Think of how stupid the average person is, and realize half of them are stupider than this.“ - George Carlin

  • Eltern haben keine Entscheidungsbefugnis. Sie können eine erstmalige Feststellung weder erwirken noch verhindern. Die Entscheidung liegt immer (!) bei der Schulbehörde. In den Klassenkonferenzen sitzen Elternvertreter, sie sind aber in diesen Fällen nicht stimmberechtigt.

    Dein Hinweis auf fehlende Zusatzbedarfsstunden ist falsch. In Niedersachsen erhalten die Schulen sogenannte 403-er Stunden (Std. für Schulen mit einem hohen Anteil an Schülern mit dem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt ES). Weiterführende Schule erhalten pro Schüler mit einem Förderbedarf drei zusätzliche Förderschulstunden. Ob die erteilt werden können, steht auf einem anderen Blatt. Um Unterrichtsversorgung geht es hier aber nicht. Fakt ist, dass ich Schulen kenne, die ein Interesse daran haben, möglichst viele Kinder mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf zu beschulen. Auch die Schulauswahl für das Startchancenprogramm war unter Anderem an diese Zahl geknüpft. Je mehr Kinder mit Förderbedarf, desto höher die Chancen, von der millionenschweren Förderung etwas abzubekommen.

  • In Niedersachsen haben Eltern überhaupt kein Mitspracherecht bei dem Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs. Sie können einen solchen weder verhindern, aufheben oder einfordern. Das läuft alles schulintern. Eltern werden lediglich informiert.

    Nein, wie Palim schon richtig beschrieben hat, werden Eltern nicht nur informiert, sondern in das Verfahren aktiv einbezogen. Auch können sie selbst die Einberufung einer Förderkommission verlangen.

  • Nein, wie Palim schon richtig beschrieben hat, werden Eltern nicht nur informiert, sondern in das Verfahren aktiv einbezogen. Auch können sie selbst die Einberufung einer Förderkommission verlangen.

    Das ist richtig. Vielleicht drücke ich mich missverständlich aus. Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass ein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf auch gegen den Willen der Eltern bestimmt werden darf. Das habe ich selber mehrfach erlebt: Eltern wollten keinen Förderbedarf für ihr Kind und konnten ihn nicht verhindern. Auch umgekehrt schon erlebt: Eltern wollten einen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf für ihr Kind und haben das Ziel nicht erreicht, weil Schule und/oder Behörde den Bedarf nicht erkannten. Interessant zu lesen, dass das in anderen Bundesländern ganz anders ist.

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