Relativ oft höre ich auf dem Heimweg im Auto den Deutschlandfunk im Radio, so auch gestern. Was ich dort allerdings gehört habe, hat mich als Sonderpädagogin ziemlich wütend gemacht.
In einem Beitrag aus dem Bereich Bildung äußerte sich der Bildungsforscher Klaus Klemm zum Thema Inklusion. Dabei erklärte er, dass eine Studie ergeben habe, dass von inklusiv unterrichteten Schülern mit einem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf 75% mindestens einen Hauptschulabschluss erreichen würden. Von Schülern, die an einem Förderzentrum unterrichtet werden, seien dies lediglich 50% die einen Schulabschluss erreichen. Daraus schlussfolgerte er, dass die Förderung von Kindern im inklusiven Setting weitaus erfolgreicher sei als an Förderschulen. Schließlich wolle man ja allen Schülern in Deutschland möglichst einen Schulabschluss ermöglichen.
Zunächst habe ich überlegt, ob die Aussage für die Zuhörer und die daraus resultierende Wahrnehmung unabsichtlich oder absichtlich geschah. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass es genau so gewollt war.
Ich selbst halte die Behauptung eines kausalen Zusammenhangs zwischen der Abschlussquote an Regel- und Förderschulen für extrem unseriös, wenn dabei nicht die einzelnen Förderschwerpunkte und ihr Schüleranteil im inklusiven Setting bzw. an Förderschulen genau betrachtet werden.
Für meine eigene Schule kommen da nämlich ganz andere Quoten heraus. Ich selbst arbeite ja an einer Schule für Hörgeschädigte. Bei uns gibt es in der weiterführenden Schule die Bildungsgänge Lernen, Hauptschule, Werkrealschule, Realschule und gymnasiale Oberstufe (berufliches Gymnasium). Wir unterrichten ca. 200 Schüler im Bereich der Sekundarstufe 1 und 2 und betreuen ähnlich viele Schüler durch den mobilen sonderpädagogischen Dienst an Regelschulen. Die Statistik zeigt, dass Kinder, die irgendwann in ihrer Schullaufbahn die Ziele der Klassenstufe bzw. des Bildungsplans nicht erreichen können, immer (!) auf Elternwunsch zu uns ans Förderzentrum Hören wechseln und hier weiter beschult werden. Somit haben wir im inklusiven Teil unserer Schüler eine Abschlussquote von sogar 100% (vielleicht auch nur 99%).
In unserer Förderschule selbst haben wir in den Bildungsgängen gymnasiale Oberstufe, Realschule, Werkrealschule und Hauptschule ebenfalls eine Abschlussquote mit mindestens einem Hauptschulabschluss von 99-100%.
Nun haben wir aber auch einen Bildungsgang Lernen. Dieser wird von allen Kindern und Jugendlichen besucht, die trotz intensiver Förderung auch langfristig die Bildungsziele nicht erreichen können. In der Regel haben diese Schüler ALLE eine Mehrfachbehinderung mindestens aus den Bereichen Hören und Lernen, welche sie umfassend in ihrer kognitiven und somit schulischen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. In diesem Bildungsgang haben wir daher eine Abschlussquote von 0%, da Schüler, die einen Abschluss erreichen können bei uns immer eine Abschluss-Regelklasse besuchen.
Wenn wir aus diesen Werten nun einen Durchschnitt berechnen, müssen wir leider ebenfalls feststellen, dass die Förderung in der Inklusion erfolgreicher zu sein scheint.
Hier muss ich jetzt aber laut STOP schreien. Keiner unserer hörgeschädigten Schüler in der Inklusion hat eine Mehrfachbehinderung, die ihn kognitiv beeinträchtigt! Wie aussagekräftig ist denn also die Behauptung, dass Inklusion und Abschlussquote kausal zusammenhängen???
Natürlich ist meine Beobachtung anekdotisch. Wenn ich jetzt aber davon ausgehe, dass zwischen 50 und 75% der inklusiv geschulten Kinder einen Förderbedarf aus den Bereichen Hören, Sehen, körperliche motorische Entwicklung sowie sozial-emotionale Entwicklung OHNE eine kognitive Mehrfachbehinderung haben, erscheint es nur logisch, dass diese alle einen Schulabschluss erreichen, denn sonst hätten sie ja einen Förderbedarf Lernen oder geistige Entwicklung.
Aus den Zahlen könnte man also auch Schlussfolgern, dass von den 25% inklusiv beschulten Schülern ohne Abschluss fast alle Kinder mindestens auch den Förderbedarf Lernen oder geistige Entwicklung alleine oder zusätzlich haben. Daraus ergibt sich die Frage, ob die 50% der Förderschüler an Förderschulen nicht eben auch mindestens den Förderbedarf Lernen oder geistige Entwicklung haben und daher keinen Hauptschulabschluss schaffen können. Da diese Gruppe der Förderschüler auch heute noch überwiegend an Förderschulen unterrichtet wird, ist also nur logisch, dass ihr Anteil ohne Abschluss in Förderschulen größer sein muss als in Regelschulen.
Es mag durchaus Jugendliche mit dem Förderbedarf Lernen in Regelschulen geben, die den Hauptschulabschluss schaffen. Es ist dann jedoch davon auszugehen, dass die Ursache der Lernstörungen eher in der sozio-kulturellen Entwicklung zu finden ist, während die stärker betroffenen Kinder häufig von hirnorganischen Schäden (genetisch, krankheitsbedingt…) bzw. massiven Entwicklungsstörungen betroffen sind und sich dies auch nicht durch Förderung „wegzaubern“ lässt.
Man könnte also vermuten dass die Abschlussquoten an den Förderzentren Hören, Sehen, körperliche und motorische Entwicklung und sozial-emotionale Entwicklung weit über 50%, an Förderzentren Lernen irgendwo zwischen 0 und 25% und an Förderzentren geistige Entwicklung bei 0% liegen. Der Durchschnitt unter Berücksichtigung der jeweiligen Schülerzahlen ergibt daher eben „nur“ eine Abschlussquote von 50% „dank“ der Schüler mit kognitiven Behinderungen, die hier einen deutlich größeren Anteil an der Gruppe der Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf einnehmen wie an Regelschulen, während die Schüler ohne kognitive Beeinträchtigung an den Förderschulen einen deutlich geringeren Anteil wie an Regelschulen einnehmen.
Hier wird Eltern von Bildungsforschern vermittelt, dass auch kognitiv beeinträchtigte Kinder an Regelschulen einen Hauptschulabschluss schaffen könnten, während er an Förderschulen häufig quasi von vornherein ausgeschlossen sei. Dies begründete Herr Klemm unter anderem damit, dass die Sonderpädagogen an Förderschulen den Kindern bereits von Anfang an suggerieren würden, dass die ganze Klasse sowieso keinen Schulabschluss schaffen könne. Dies entspricht bis auf die Förderschule geistige Entwicklung NICHT den Tatsachen und auch dort sprechen die Lehrkräfte nicht auf diese Art und Weise mit ihren Schülern!!! An allen Förderschulen Lernen kann in einem 10. Schuljahr der Hauptschulabschluss abgelegt werden, wenn die Leistungsfähigkeiten der Schüler dies ermöglichen. Zumindest für BW ist dies im Schulgesetz festgeschrieben. Zudem sorgen die Förderzentren bei Schülern ohne Schulabschluss immer für einen gesicherten Anschluss (z.B. Ausbildung, Berufsbildungswerk, Berufsschulstufe…). Dies geschieht dagegen an Regelschulen für Förderschüler ohne Abschluss nicht durch die Schule. Hier werden Kinder aus schwierigen Verhältnissen also klar benachteiligt!
Versteht mich nicht falsch. Es gibt viele Kinder und Jugendliche, die sehr erfolgreich inklusiv beschult werden und problemlos die verschiedensten Schulabschlüsse erreichen. Dies liegt aber in der Regel weniger an der tollen Inklusion, als viel mehr an ihren individuellen kognitiven Voraussetzungen und dem jeweiligen Förderbedarf.
Eine solche öffentliche Falschdarstellung unserer Arbeit in den Förderschulen macht mich nicht nur immer wieder fassungslos, sondern auch wütend. Da werden ideologisierte Falschaussagen mit fadenscheinigen wissenschaftlichen Studien begründet, Eltern damit belogen und verunsichert und Sonderpädagogen diffamiert!!!