Ideal und Wirklichkeit

  • Hallo zusammen,


    im Lehramtsstudium und in Praktika habe ich wahnsinnig oft vom »Praxisschock« oder dem Zerbrechen der studentischen Ideale an der schulischen Realität gehört. Das scheint in der Darstellung ebenso vorprogrammiert wie der Burnout, Clinch mit den Eltern etc. pp.


    Ist da was dran? Falls ja: Gab es bei Euch da Kipp- oder Schlüsselmomente oder war/ist das eher ein Prozess?


    Liebe Grüße!

  • Ich wollte immer Lehrer werden, habe mich deswegen schon vor dem Studium umfassend über den Beruf informiert.


    Kam dann an die Schule (noch als Vertretungskraft) und es war alles so wie ich es mir gewünscht und vorgestellt hatte.

  • Was heißt Praxisschock? Eine Umstellung ist es schon, beispielsweise allein schon die studentische Lebensweise im Vergleich zum Leben als Referendarin, wo du um 7.20 Uhr an deiner Schule sein musst und dann evtl. schon eine Anfahrt von einer Stunde hinter dir hast. So war es bei mir. Zuerst war ich an den Schulort gezogen, der befand sich aber im Nichts an der tschechischen Grenze, so dass ich es da nicht ausgehalten habe. Abends mit den anderen in die Kneipe gehen gab es höchstens mal am Wochenende, aber ich habe mir sagen lassen, dass heutige Studenten sowieso da nicht mehr so viel hingehen und mehr lernen. :weissnicht:

    Ich wusste auch nicht, wie viel Erziehungsarbeit die ganze Zeit mitläuft, zumindest in der Grundschule und wie viel Pech manche Kinder mit ihrer Herkunft haben, welche Rolle das Elternhaus spielt und wie viel sich Eltern in alles einmischen.

  • Ich persönlich habe diesen Praxisschock nicht erlebt. Mir war vorher klar, dass es nicht darum geht, der Freund der Schüler zu werden oder von allen gemocht zu werden. Bei 200 Personen ist immer jemand dabei, der/die mit mir nicht kann oder mich nicht mag. Das gehört zum Beruf dazu. Ansonsten war es viel Arbeit, aber die hatte ich bei den Laborpraktika im Studium auch.

  • Praxisschock? Das war eigentlich nur die viele als überflüssig empfundene Zeit fressende Arbeit (Entwürfe schreiben, Arbeitsblätter in Patchworktechnik - noch ohne PC), die ich vom Studium nicht kannte...

    Der Rest war okay, genau so erwartbar und nicht belastend.

  • Lass es mich mal so formulieren: Was sicher einem Realitätscheck unterzogen werden wird, sind (unrealistische) Erwartungen -besonders bezogen auf Lernende und Unterricht.


    Lass mich mal ein paar Beispiele bringen. Bitte nicht falsch verstehen, ich möchte nicht unterstellen, dass du diese Erwartungen hast - ich möchte damit nur verdeutlichen, dass die (Schul-)Realität meistens nicht Schwarz oder Weiss ist, sondern aus vielen Grautönen besteht.


    Erwartung: „Meine Lernenden sind alle kleine Forscher, die die Welt verstehen wollen - daher sind sie immer interessiert und intrinsisch motiviert“

    Realität: Einige werden deine Fächer lieben und interessiert sein, egal was du machst. Andere werden nicht interessiert sein, selbst wenn du im Unterricht einen Regenbogen mit Goldkessel am Ende herbeizauberst. Für die meisten ist dein Fach eines unter vielen, das sie einfach lernen müssen, weil es eben Teil des Curriculums ist - nicht mehr und nicht weniger.


    Erwartung: „Ich kann mit meinen Schülerinnen und Schülern fachlich anspruchsvolle Themen machen“

    Realität: Es wird Lernende geben, die mehr wissen wollen, als im Schulbuch steht. Es wird aber auch solche geben, die selbst am Ende ihrer Schulzeit mit grundlegenden Dingen Probleme haben werden, die für dich absolut trivial sind. Die meisten werden froh sein, wenn sie das aktuelle Thema gut genug verstanden haben, um eine ordentliche Note in der Prüfung zu schreiben und die freundlich aber bestimmt ablehnen, wenn du ihnen „mehr“ anbietest.


    Wie gehe ich damit um? Tja, ich versuche, soweit möglich, meine Lernenden individuell da abzuholen, wo sie sind und mit ihnen das zu machen, was geht :)

    Und ich freue mich über solche Feedbacks (zur Einordnung: ich unterrichte Volljährige, die nach der Berufslehre die Berufsmaturität (=Fachhochschulreife) machen): „Mathe ist nicht mein Lieblingsfach und es interessiert mich auch nicht wirklich, aber ich habe zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, dass ich Mathe lernen kann und ich keine Angst davor haben muss“ (hier paraphrasiert, aber exemplarisch für einige gleichartige reale Feedbacks von Lernenden).

  • Im wesentlichen ist das eine Frage der realistischen Einstellung und Erwartungen:

    • Du bist ein Anfänger. Mit dem Studium hast du nur die theoretischen Grundlagen gelernt.
    • Fachdidaktische und pädagogische Fachliteratur ist idealisiert. Der Alltag ist komplexer und es gibt keine monokausalen Zusammenhänge oder einfache Lösungen.
    • Ältere auf den ersten Blick innovationsträge Kollegen, haben das meiste, was du als neu ansiehst, schon ausprobiert und gucken sehr viel stärker auf die Kosten-Nutzen-Bilanz. Die haben einen Pool an erprobten und effektiv funktionierenden Methoden.
    • Dir fehlt die Erfahrung um die Struktur des Systems, Schulentwicklung und Unterricht realistisch zu bewerten. Das ist ein Punkt an den du stößt, wenn du neue Ideen einbringst. Das kann frustrierend sein, weil erfahrene Kollegen Probleme sehen, die du noch nicht beurteilen kannst.
    • Schüler haben die ganze Bandbreite an Interesse an deinem Fach/Unterricht, von gar keinem bis interessiert. Verlierst du davon eine Gruppe aus dem Blick, geht dein Unterricht schief.
    • Schüler sind nicht deine Freunde. Du brauchst eine Professionelle Distanz. Schüler dürfen nicht den Kern deines Selbstwerts bestimmen.
    • Kritik im Ref geht an dich als professionelle Person in deiner Lehrerrolle, an dein professionelles Handeln, nicht an den Kern deiner Persönlichkeit.
  • Im Lehramtsstudium und in Praktika habe ich wahnsinnig oft vom »Praxisschock« oder dem Zerbrechen der studentischen Ideale an der schulischen Realität gehört. Das scheint in der Darstellung ebenso vorprogrammiert wie der Burnout, Clinch mit den Eltern etc. pp.


    Ist da was dran? Falls ja: Gab es bei Euch da Kipp- oder Schlüsselmomente oder war/ist das eher ein Prozess?

    Welche Ideale sollen denn ganz konkret woran zerbrechen? Was wurde dir da bislang erzählt?


    Ich kenne das jedenfalls nicht, bin aber auch nicht mit völlig an der Realität vorbeigehenden Vorstellungen oder verklärten Idealen von SuS, Schule und Unterricht in den Schuldienst gegangen.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Ist da was dran? Falls ja: Gab es bei Euch da Kipp- oder Schlüsselmomente oder war/ist das eher ein Prozess?

    Bei mir zumindest nicht. Die tägliche Arbeit ist schon anders, als man sich das als Student ausmalt, insbesondere wenn man dann eine Klassenleitung hat.


    Den Praxisschock haben meines Erachtens nach wenn dann eher die Personen, die vorher nie gearbeitet haben (also auch kein Nebenjob) o.ä. und auf einmal aus der kuscheligen Uni im normalen Berufsleben landen. Und da ist es natürlich ungewohnt, wenn man auch z.B. eine negative Rückmeldung von einem Ausbildungslehrer bekommt, das ist was anderes, als ein unpersönliches "nicht bestanden" in einer Klausur.

  • Ich kenne und kannte das nicht. Aber ich habe vor dem Lehramtsstudium einen kaufmännischen Beruf gelernt und ausgeübt. 8 Stunden am Tag im Großraumbüro, 25 Tage Urlaub im Jahr bei halbem Lehrergehalt. Alles, was danach kam, war deutlich besser.

  • Ich kenne und kannte das nicht. Aber ich habe vor dem Lehramtsstudium einen kaufmännischen Beruf gelernt und ausgeübt. 8 Stunden am Tag im Großraumbüro, 25 Tage Urlaub im Jahr bei halbem Lehrergehalt. Alles, was danach kam, war deutlich besser.

    Ja, dem kann ich zu 100 % zustimmen. Auch mein Start ins Berufsleben war eine kaufmännische Lehre, anschliessend 5 Jahre Arbeit in diesem Beruf. „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ ist keine so schlechte Erfahrung 😉 Ich jedenfalls wusste alles danach umso mehr zu schätzen, denn so weit unten in der Hackordnung war ich nie wieder - schon gar nicht in der Lehrerausbildung.

  • Welche Ideale sollen denn ganz konkret woran zerbrechen? Was wurde dir da bislang erzählt?


    Ich kenne das jedenfalls nicht, bin aber auch nicht mit völlig an der Realität vorbeigehenden Vorstellungen oder verklärten Idealen von SuS, Schule und Unterricht in den Schuldienst gegangen.

    Ich denke da v.a. an solche »Ideale«, wie:


    - versuchen, menschliche und fachlich möglichst allen SuS gerecht zu werden

    - SuS fürs Fach zu begeistern (unpgragmatischer/lebendiger Unterricht)

    - die SuS zu lupenreinen Demokraten zu erziehen

    - den SuS Nachhaltigkeit, Inklusion, Antirassismus etc.vermitteln


    Vielen lieben Dank an alle, die was geschrieben haben, das war super hilfreich!

  • Wenn du die Dinge meinst kann es durchaus zum Praxisschock kommen.

    Wir arbeiten mit Menschen und können uns auf die Schulter klopfen (je nach schultyp) wenn die SuS:

    - heil aus dem Unterricht kommen

    - sich vernünftig ausdrücken können

    - Streit gewaltfrei lösen

    - ein wenig mitgenommen haben

    - zumindest kein komplettes Desinteresse an deinem Fach entwickeln

    - halbwegs neugierig bleiben

    - eine eigene Meinung begründen können (und wenns nur in Teilen ist)

    - die eigene politische Meinung zumindest auch mal hinterfragt wird und nicht per se alle anderen Meinungen als vernichtungswürdig ansehen (Mögen sie mich hassen solange sie mich am Leben lassen)

    - ein wenig Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Dingen haben

    - nicht nur Stammtisch verfolgen


    Alles andere ist on top und toll aber optional denn es kann an der Praxis n vielen Dingen scheitern, z. b. auch an Kollegen die den von dir genannten Dingen nicht entsprechen.

    • Nicht, wer zuerst die Waffen ergreift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt. -Machiavelli-
    • Zwei Mächte gehen durch die Welt, Geist und Degen, aber der Geist ist der mächtigere. -Napoleon-
    • In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst! -Augustinus-
  • Ich denke da v.a. an solche »Ideale«, wie:


    - versuchen, menschliche und fachlich möglichst allen SuS gerecht zu werden

    Das wäre natürlich der Idealfall, aber es muss jedem und jeder vor Berufsergreifung klar sein, dass das utopisch ist und selbst dann wäre, wenn wir nicht mit Lerngruppen von teilweise über 30 SuS arbeiten würden, die wir unter Umständen aber nur eine Stunde pro Woche unterrichten. Wir geben als Lehrkräfte unser Bestes. Mehr geht nicht. Dazu gehört auch, die eigenen Grenzen anzuerkennen und sich nicht qua unrealistischem Ideal von vornherein dem Burnout in die Arme zu treiben.


    - SuS fürs Fach zu begeistern (unpgragmatischer/lebendiger Unterricht)

    Ich weiß nicht, was „unpragmatischer Unterricht“ sein soll. SuS für ein Fach zu begeistern ist natürlich eine schöne Kirsche auf dem Kuchen des alltäglichen Unterrichts. Dennoch geht es im Alltag einfach an vielen Stellen um ganz basale Dinge, wie Fachinhalte auch denen erfolgreich zu vermitteln, die weder begeistert, noch interessiert sind, während man parallel den Spagat schafft auch denen ein gutes Lernangebot zu machen, die sich tiefergreifend zumindest für das aktuelle Thema interessieren, ganz gleich, ob diese auf G- oder M- Niveau oder gar zieldifferent beschult werden.


    Zitat

    - die SuS zu lupenreinen Demokraten zu erziehen

    Den Begriff „lupenrein“ finde ich vorsichtig formuliert etwas schwierig, interpretiere das jetzt aber einfach mal so, dass man die SuS dazu erziehen soll, mit beiden Beinen fest auf dem Boden des GG zu stehen. Daran arbeiten wir als Lehrkräfte und als Schulen natürlich tagtäglich. Allerdings sind wir nicht die einzigen, die die SuS erziehen, sondern nur einer der beiden Erziehungspartner. Die Eltern sind der andere Teil dieser Erziehungspartnerschaft und deren Erziehung hin zu bestimmten Haltungen und Einstellungen beginnt deutlich früher als unser Einsatz und steht nicht immer im Einklang mit dem, was wir in der Schule vermitteln.

    Im besten Fall schaffen wir es, die jungen Menschen, die ja noch heranwachsen und sich noch weiter entwickeln auch nach dem Ende ihrer Schulzeit, dazu zu erziehen als mündige Bürger eigenständige, kritische, begründete Urteile zu fällen, sowie dazu, sich dafür erforderliche Informationen selbstständig einzuholen und angemessen zu prüfen und einzuordnen. Im besten Fall befähigt das die jungen Menschen dazu, sich auch über im Elternhaus erlernte, mit dem GG konfligierende Haltungen zu erheben und weiterzuentwickeln. Auch dafür geben wir unser Bestes. Täglich. Mehr geht nicht.


    Schulen entwickeln sich kontinuierlich weiter und verändern sich, weil wir immer wieder aufs Neue versuchen nicht nur neuen Herausforderungen gerecht zu werden, sondern auch für altbekannte Themen, Fragen und Probleme bessere Lösungsansätze zu entwickeln. Ideale können ein wichtiger Ausgangspunkt sein für diesen Prozess, solange man die Realität nicht ignoriert. Teil dieser Realität ist es zu akzeptieren, dass man als Lehrkraft nicht die Welt retten kann und auch nicht die alleinige Verantwortung trägt für den Lern- und Entwicklungsprozess von Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen. Wir tragen Mitverantwortung, zusammen mit den Eltern, mit der Gesellschaft, die für bestimmte Rahmenbedingungen sorgt, aber eben auch mit den jungen Menschen die wir ausbilden und ein Stück weit auf ihrem Lebensweg begleiten selbst. Denn was diese aus dem machen werden künftig, was ihnen in der Schule vermittelt wurde entzieht sich am Ende unserer Verantwortung als Lehrende.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

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