Ab wann hat man "die Sache im Griff"

  • Liebes Lehrerforum

    Kurz zu mir, ich bin hier komplett neu, lese aber schon eine Weile immer mal wieder mit. Ich habe eine Sek II Ausbildung unterrichte aber seit ca. 2 Jahren auf der Stufe Sek I in der Schweiz.

    Ich bin über eine Stellvertretung rein gerutscht, weil ich auf der Sek II gerade keine Stelle gefunden habe und geblieben weil es mir Spass macht mit den SuS und ich das Kollegium sehr mag.

    Dabei ist es oft nicht einfach. Unser Schulstandort hat keinen guten Ruf wir haben immer mal wieder die Polizei da, haben sporadisch Probleme mit Drogen, Vandalismus und Gewalt.

    Am Anfang habe ich mir oft gedacht „Hilfe, dafür bin ich eigentlich nicht ausgebildet!“. Meine Praktika auf der Sek II waren immer in leistungswilligen und starken Klassen. Ich musste nie dazwischen gehen, wenn Marc-Mohammed Jan-Jakob am Kragen gepackt hat und mir Sachen anhören wie: „Der H******** hat meine Mutter beleidigt, bestrafen sie ihn sonst schlag ich ihn nachher zusammen!!!“. Aber man kriegt den Dreh raus, irgendwie...

    An guten Tagen machen die SuS super mit und ich habe das Gefühl die SuS und ich wir verlassen zufrieden das Zimmer. Auch wenn sie auf bescheidenem Niveau arbeiten, an guten Tagen wissen sie, dass sie gut gearbeitet haben, sie wissen dass das für sie nicht selbstverständlich ist, dass ich happy bin und das sie jetzt was geschafft haben. An mittleren Tagen fällt irgendetwas vor, sie haben Streit, sind unkonzentriert oder einfach mies drauf. Dann rede ich mit ihnen schicke sie zum Sozialpädagogen, finde eine andere Aufgabe für sie, die sie in dem Moment erledigen können und die Stunde ist trotzdem ok, weil ich weiss, das hätte jetzt richtig schief gehen können, aber irgendwie haben wir trotzdem eine Stunde hingekriegt inder die Mehrheit der SuS arbeiten konnte. An sehr schlechten Tagen verliere ich vielleicht auch mal die Geduld, wegen eigentlich nichts, weil ich Eduard-Eren zum 3. Mal sagen musste, dass er seinen Kaugummi entsorgen muss. Weil Mohammed-Melvin am Anfang der Stunde die Sitzplatzkarten vertauscht hat und ernsthaft meint ich würde das nicht merken und es einfach schon der 3. Vorfall in derselben Woche ist und ich einfach keine guten Nerven habe an dem Tag. Dann motze ich sie vielleicht auch einmal an, dann verlassen ich und die SuS am Ende frustriert das Klassenzimmer. Manchmal werde ich dann eine Weile nicht mehr gegrüsst auf dem Gang. Mittlerweile weiss ich aber, das hält maximal zwei Tage und das auch nur wenn ich sehr gemein, völlig unfair und ganz, ganz böse war. Spätestens nach zwei Tagen war irgendjemand anderes gemein, unfair und böse zu ihnen und dann sind meine Sünden wieder vergessen. Dann kommt wieder einer an und am Ende die ganze Gruppe: „Frau Heidelibelle, wir haben gerade einen Test geschrieben, der war soooo schwer.“ Frau Heidelibelle der Herr Y. hat vorhin dieses und jenes gemacht, darf der das?“ und schwupp haste wieder die ganze Gruppe um dich rum.

    Meine 1. Reihen habe ich mittlerweile konditioniert. Wenn ich etwas sagen will stell ich mich vor die Klasse, sehe einen in der vordersten Reihe an, der schaut zurück und fragt freundlich: Möchten sie sprechen Frau Heidelibelle?

    Ja bitte.

    Dann dreht er sich um und brüllt: HALTET ALLE EURE SCHEISS FRESSEN; FRAU HEIDELIBELLE MÖCHTE SPRECHEN.

    Dann gehts einen Moment, aber sie werden ruhig.

    Ich habe das Gefühl ich improvisiere ständig, ich diskutiere, strafe, erkläre, bin mal konsequent, mal nicht so, habe das Gefühl ich habe fast alles, was man nicht machen sollte schon mal gemacht.

    Vom Disziplinlevel bin ich so mittel unterwegs, ich weiss das ich Klassen unterrichte, die andere Lehrer schon heulend aus dem Zimmer gejagt haben und bei mir arbeiten sie, sie lernen, wir lachen sehr viel und ich weiss, die meisten kommen gerne. Ich weiss aber auch das ich relativ viel mit den SuS diskutiere, auch über Sachen, die andere Lehrer nicht mit ihnen diskutieren. Bei mir steht keiner stramm, manchmal habe ich das Gefühl ich hätte weniger Disziplinsprobleme wenn ich weniger mit ihnen diskutieren würde, aber andererseits, will ich ja gar nicht das sie einfach nur schweigend alles schlucken was ich ihnen vorgebe. Es kommt immer auf den Tonfall an und meistens wollen sie mir dann auch beweisen, dass sie sich an Regeln halten können. Fair sein ist ihnen unglaublich wichtig, also wollen sie mir gegenüber auch Fairness zeigen.

    Und trotz allen Schwierigkeiten so viel wie in den letzten zwei Jahren habe ich im Leben nicht gelacht.

    Kurzum und als Zusammenfassung: Manchmal habe ich das Gefühl: Das läuft doch gar nicht schlecht und langsam hab ich s raus !und manchmal denke ich mir: Wer hat eigentlich jemals entschieden, dass es eine gute Idee sein soll MICH vor eine Schulklasse zu stellen? Nach Lehrbuch läuft eigentlich nichts.

    Auch das Gefühl das das gelingen des Unterrichts nicht so sehr von meiner Planung sondern vor allem auch davon abhängt ob Jan-Jakob und Thomas-Tolga heute mit dem linken oder mit dem rechten Fuss aufgestanden sind bleibt.

    Jetzt die Frage an die erfahrenen Lehrer hier: Ab wann hattet ihr das Gefühl doch, ich habe eigentlich jede Situation schon einmal erlebt, ich weiss ganz genau was ich da tue und habe das voll im Griff!?

    Liebe Grüsse aus der Schweiz

  • Hierzu werden sicherlich die lieben Kollegen und Kolleginnen mit mehr Erfahrung mit ähnlichem "Klientel" (selbst arbeite ich derzeit in einem rechten Lummerland-Paradies, wo es vergleichsweise selten Disziplinschwierigkeiten gibt) noch ausführlicher antworten und ich habe gerade auch nur wenig Zeit, aber eines möchte ich gerne kurz loswerden: Deine Beschreibung klingt, als hättest du es jetzt bereits im Griff!


    Anders ausgedrückt, deine Frage


    "Ab wann hattet ihr das Gefühl doch, ich habe eigentlich jede Situation schon einmal erlebt, ich weiss ganz genau was ich da tue und habe das voll im Griff!?"


    würde ich für mich persönlich mit "nie" beantworten. Ich glaube nicht, dass dieser Moment bei mir in dieser Form eintreten wird. Natürlich gibt es Momente, ich denen ich sagen würde, ich habe es jetzt gerade voll im Griff - aber eben nicht immer!


    Ich glaube, das macht aber auch gerade einen Teil der Freude an unserem Beruf aus, dass eine völlige Routine und "alles-schon-mal-erlebt" eben nicht eintreten kann, dass es immer menschelt, dass man sich weiterhin täglich reflektieren kann und sollte, dass man aber auch jeden Tag wieder einen Neubeginn wagen kann, wenn der vorige Tag halt nicht so lief.


    Wie gesagt, deine Beschreibung klingt aus meiner Sicht, als ob du gut unterwegs bist: Du reflektierst dein Handeln, du lachst mit den Schülern, du bist ganz offensichtlich gut akzeptiert/respektiert, natürlich läuft nicht alles immer perfekt und reibungslos, aber das muss es ja auch nicht und ich denke eben, das wird es auch nie.


    Soweit mal meine erste Reaktion. Ob ich als "erfahrener Lehrer" gelte, weiß ich allerdings gar nicht, ich bin jetzt auch noch nicht seit 30 Jahren "im Geschäft".

  • Ab wann hattet ihr das Gefühl doch, ich habe eigentlich jede Situation schon einmal erlebt, ich weiss ganz genau was ich da tue und habe das voll im Griff!?

    Was du schreibst klingt ziemlich "normal" für Niveau A bzw. Realschule (je nach Kanton, in dem du arbeitest), mutmasslich irgendwo in der Nähe einer grösseren Stadt (Basel?!). Und es klingt ziemlich so, als hättest du die Sache bereits im Griff. Wenn dir Sek I Spass macht, dann bleib da bitte, wir brauchen Leute wie dich dort :rose:

  • Da kann ich mich nur dem Joker anschließen und sagen: "Gottseidank nie!"

    #Zesame:!:


    Konzentrieren Sie sich ganz auf den Text, wenden Sie das Ganze auf sich selbst an. (J.A. Bengel)

  • Alles gesagt, Du hast das im Griff, die Schüler respektieren Dich, sie wenden sich an dich, weil sie dir vertrauen. Genau solche Lehrer braucht man an solchen Standorten. Lehrer bzw. Lehrerinnen, die Schüler und nicht Fächer unterrichten (ich weiß, ist geklaut). Die ihren Schülern zuhören und sie ernst nehmen und dann ihnen noch was beibringen.

    Respekt.

  • Auch ich würde diese Frage als m E. erfahrene Lehrerin (nach fast 20 Jahren plus 1,5 Jahren Ref.) mit "nie" beantworten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeine Lehrkraft jede erdenkliche Situation schon mal erlebt hat (und das ist auch gut so! Einige Situationen möchte ich auf keinen Fall erleben müssen!).

    to bee or not to bee ;) - "Selbst denken erfordert ja auch etwas geistige Belichtung ..." (CDL)

  • Na ja, was heißt denn "das ist auch gut so"? So ist halt der Job ;)

    Das heißt genau das, was ich schrieb: Ich möchte gar nicht jede erdenkliche Situation in der Schule miterleben müssen. Du etwa? Oder gehört es deiner Ansicht nach bspw. zu unserem Job, irgendwann in unserer Dienstzeit mal einen Amoklauf miterleben zu müssen?

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  • Was du schreibst klingt ziemlich "normal" für Niveau A bzw. Realschule (je nach Kanton, in dem du arbeitest), mutmasslich irgendwo in der Nähe einer grösseren Stadt (Basel?!). Und es klingt ziemlich so, als hättest du die Sache bereits im Griff. Wenn dir Sek I Spass macht, dann bleib da bitte, wir brauchen Leute wie dich dort :rose:

    Ich unterrichte in allen drei Leistungsniveaus, Niveau E kann auch ganz schön aufdrehen. Aber örtlich liegst du richtig ^^ So offensichtlich?

  • So offensichtlich?

    Ich würde mich jetzt sogar getrauen ein konkretes Schulhaus zu nennen, ich glaube nämlich, dass eure Schule in unserem Einzugsgebiet liegt ;) Ich oute dich jetzt nicht öffentlich, nur Folgendes: Wir haben Übertreter aus dem Leistungszug E am Gymnasium und Übertreter aus A und E an der FMS. Die sind alle völlig in Ordnung, scheinen vorher gute Lehrpersonen gehabt zu haben. :whistling:

  • Sowas passiert auch nicht einfach, sondern hat Gründe.
    Wirkt diesen schon anlasslos entgegen!
    Wie? Respekt z.B..

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  • Worauf hast du denn vorher reagiert?

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  • Na, darauf, dass Diokeles diesen Beitrag von mir:

    Das heißt genau das, was ich schrieb: Ich möchte gar nicht jede erdenkliche Situation in der Schule miterleben müssen. Du etwa? Oder gehört es deiner Ansicht nach bspw. zu unserem Job, irgendwann in unserer Dienstzeit mal einen Amoklauf miterleben zu müssen?

    mit einem "Shit happens" abgetan hat. Er scheint also zu meinen, solche Angriffe gehörten zu unserem "Arbeitsalltag". Das sehe ich absolut nicht so.


    Du meinst also, "sowas" - sprich: gewalttätigen Attacken von SuS - könne durch Respekt o. ä. (Durch wen? Die Lehrkräfte gegenüber den Schüler*innen?) entgegengewirkt werden, oder wie? Diesen Messerangriff: Messerangriff an Dortmunder Schule: Großalarm ausgelöst (ruhrnachrichten.de) oder diesen hier: Haftbefehl gegen Schüler erlassen: Mordversuch an BBS Wildeshausen (weser-kurier.de) wie auch diesen Angriff auf eine Schulsekretärin: Nach Schüssen an Schule in Bremerhaven: 21-Jähriger schweigt | NDR.de - Nachrichten - Niedersachsen - Studio Oldenburg hätte "man" also deiner Meinung nach durch "Respekt" oder anderswie "anlasslos" verhindern können? Bitte erkläre mir das nochmal genauer.

    to bee or not to bee ;) - "Selbst denken erfordert ja auch etwas geistige Belichtung ..." (CDL)

  • Also gell... Wenn's tatsächlich der Standort ist, den ich vermute, sind wir himmelweit entfernt von "sowas".

  • Also gell... Wenn's tatsächlich der Standort ist, den ich vermute, sind wir himmelweit entfernt von "sowas".

    Schön und gut. Nichtsdestotrotz ändert das nichts an meiner Meinung, dass ich gar nicht alle erdenklichen Situationen als Lehrkraft miterleben möchte und auch für alle anderen User*innen hoffe, dass sie einige Situationen nie erleben werden! Mehr wollte ich damit gar nicht ausdrücken.

    to bee or not to bee ;) - "Selbst denken erfordert ja auch etwas geistige Belichtung ..." (CDL)

  • Messerangriffe, Mordversuche, ...


    Sowas geschieht nicht "aus heiterem Himmel". Wenn die Chancen, die in schulischem Wirken liegen, genutzt werden, legen wir damit schon etwas auf die Waage. Dass wir nicht alleine in der Verantwortung stehen, ist auch klar. Was wir mit der Wahrnehmung unserer Verantwortlichkeiten bewirken, entzieht sich im Normalfall unserer Erfahrung, aber das entlässt uns nicht. Mit respektvollem Umgang mit den uns Anvertrauten, fängt es nur an ...


    Aber Shit happens nicht einfach so.

    #Zesame:!:


    Konzentrieren Sie sich ganz auf den Text, wenden Sie das Ganze auf sich selbst an. (J.A. Bengel)

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