Eigentlich müssten die Religionslehrer mal etwas hierzu sagen, aber die Reflektion über Glauben ist aus der Didaktik heraus nicht so viel anders als die Reflektion über Konzepte wie Demokratie im Politikunterricht oder Reflektion über die Bedeutung einer Szene eines Dramas im Deutschunterricht. Zu allem gehört das fachwissenschaftliche Fachwissen (z.B. in der Politik die Definition bestimmter Fachbegriffe), auf dessen Basis dann eine bestimmte Fragestellung unter Abwägung von Pro- und Contraargumentationen diskutiert wird. Solange es am Ende auf die Schlüssigkeit der Argumente ankommt und nicht "Schüler hat richtige Meinung = 1 Punkt, Schüler hat falsche Meinung = 0 Punkte", sehe ich da kein Problem.
Letztlich läuft es vielleicht auf anekdotische Erfahrung im eigenen Religionsunterricht während der Schulzeit heraus.
Der Unterschied, den ich aber auf Basis dieser Erfahrung sehe, liegt darin, dass deine Beispiele aus dem Politik- und Deutschunterricht immer auch als Varianten von Konstrukten, als mögliche Herangehensweisen, begriffen werden.
Wenn Deutschunterricht sich mit der Interpretation literarischer Werke beschäftigt wird (- und dazu bitte auch die Anmerkung unten berücksichtigen -), dann geht es immer darum, verschiedene Deutungsmöglichkeiten zu berücksichtigen oder möglicherweise individuelle Sichtweisen, die in diesen Werken vertreten werden, herauszuarbeiten und am Werk zu prüfen. Es geht niemals darum, Wahrheiten zu verkünden oder allgemeingültige Aussagen für das Leben oder die Gesellschaft im Sinne von Regeln oder Gesetzmäßigkeiten zu formulieren.
Mein Eindruck vom Religionsunterricht ist, dass dort häufig dogmatischer vorgegangen wird, auch dort, wo es nicht so extrem fundemantalistisch vorgeht, dass Kreationisten die Seiten zur Evolution aus den Biobüchern herausreißen. Das dürften in diesem Extrem Einzelfälle sein.
Ein Religionsunterricht, der kritisch und differenziert beleuchtet, wie auch eine nicht-rationalistische Beschäftigung mit einzelnen Themen gewinnbringend sein kann und dies auf Basis von verschiedenen Glaubensansätzen wertfrei beleuchtet, kann evtl. auch zum Herausformen der Schülerpersönlichkeiten beitragen. Ebenso, wie es eben auch mal passend sein kann, den Sternenhimmel zu genießen und dabei an Eichedorffs "Mondnacht" zu denken, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob seine Ausführungen astrophysisch korrekt sind.
Ein solcher Religionsunterricht muss, bzw. KANN, aber gar nicht konfessionell organisiert sein, sondern müsste eben von einzelnen Konfessionen abgelöst sein.
Das Bayerische Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen postuliert direkt zu Beginn, in Artikel 1, Absatz 1 den Bildungs- und Erziehungsauftrag folgendermaßen (Hervorhebung von mir):
ZitatDie Schulen haben den in der Verfassung verankerten Bildungs- und Erziehungsauftrag zu verwirklichen. 2Sie sollen Wissen und Können vermitteln sowie Geist und Körper, Herz und Charakter bilden. 3Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung, vor der Würde des Menschen und vor der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur, Umwelt, Artenschutz und Artenvielfalt. 4Die Schülerinnen und Schüler sind im Geist der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinn der Völkerversöhnung zu erziehen.
Ich kann hier mit allem mitgehen, insbesondere auch mit der "Achtung vor religiöser Überzeugung", aber die "Ehrfurcht vor Gott" als oberstes Bildungsziel an erster Stelle zu nennen, geht eben weit darüber hinaus, den Schülern ein Angebot zu einer alternativen Sicht auf die Welt in besonderen Lebenslagen anzubieten. In der Praxis geht das - in Bayern - häufig einher mit Schulgottesdiensten, die als Regel für alle Schüler geplant sind (man muss sich explizit abmelden und wird dann irgendwie sinnfrei beschäftigt), Morgengebeten im Religionsunterricht (und häufig der Versuch, der Religionsfachschaft, die Gesamtkonferenz zu überzeugen, doch zu Beginn der ersten Stunde flächendeckend zu beten) und ein Segen für die Schülerschaft zu Beginn und am Ende des Schuljahres. Und das ist aus meiner Sicht sehr übergriffig.
Anmerkung: Die tatsächliche Interpretation literarischer Werke passiert im Deutschunterricht übrigens sehr viel seltener, als man weithin annimmt; viel häufiger geht es um Analyse von literarischen Mitteln und um die Beschäftigung mit literarischen Traditionen. Die berühmte Frage "Was will uns der Autor damit sagen?" hat im Deutschunterricht wenig Platz, da es hierbei immer nur um Verumutungen gehen könnte. Außerdem ist die Literaturwissenschaft schon sehr lange zu der Erkenntnis gekommen, dass es Einflüsse auf das Werk des Autors gibt, die mit dem, was "er sagen will" nur bedingt zu tun haben und die ihm auch nicht immer direkt bewusst sein dürften.