Bildungsgerechtigkeit

  • Antimon


    in D braucht man jetzt aber (wie in etlichen anderen Ländern auch) Abitur um Hebamme zu werden.


    Ich selbst habe eine Lehre nach dem (guten) Abi gemacht, weil meine Eltern mir kein Studium an der Uni mit meinem zugesagten Platz (Biochemie) zahlen konnten. Daher habe ich nach der Lehre in der Nähe studiert und bin halt gefahren. In der vorlesungsfreien Zeit habe ich gearbeitet, um das nächste Semester zu finanzieren.

    Heutzutage sehe ich Schüler, die nach mehreren Jahren Studium (Physik, Informatik u.ä. ) abbrechen und dann doch eine Lehre machen (Fachinformatiker). Da hätte ich zur umgekehrten Reihenfolge geraten.

  • Außer der Germanist wird Wirtschaftsminister. Klingt komisch, ist aber so.




    Ich denke, das Schulsystem in Deutschland ist viel zu festgefahren und unflexibel - erschwert Übergänge und legt einen indirekt mental zu früh auf eine bestimmte Laufbahn fest. Das Schulsystem der DDR war eigentlich formal gar nicht so schlecht. Bei Staat und Umsetzung haperte es bekanntermaßen.

    Und das sehe ich eigentlich überhaupt nicht. Die Übergänge sind - in Bayern - vielfältig und flexibel. Ich hatte schon alles - runter auf Realschule, danach mit Übergangsklasse Abitur. Von der Mittelschule in die 10. Gymn usw.
    Ich sehe immer noch wie vor 15 Jahren Eltern, die lieber Realschule bevorzugen als Stress im Gym, weil sie sagen, dass die Kinder ja nach der Mittleren Reife immer noch weitermachen können.

  • mehr Schüler am Gymnasium

    Ne, das schrieb ich noch nie. Warum soll das "gerecht" sein? Ich schrieb ungefähr das Gegenteil, dass "Durchlässigkeit" bedeute, alle gehen ans Gymnasium, falsch sei. Das Kriterium sollten allein die intellektuellen Fähigkeiten und nicht die soziale Herkunft sein.

  • in D braucht man jetzt aber (wie in etlichen anderen Ländern auch) Abitur um Hebamme zu werden

    Ist das aber nicht nur deshalb so, weil die angehende Hebamme schon 18 sein muss? In Deutschland endet die Realschule ja nach dem 10. Schuljahr, die Fachmittelschule schliesst hingegen erst nach 13 Schuljahren mit der Fachmatura ab. Ist übrigens genau der Grund, warum diese Schulform überhaupt entstanden ist, das allerdings schon vor recht langer Zeit.


    Dass in Deutschland faktisch für alles mögliche ein Abitur verlangt wird, spricht ja nun gerade nicht für diesen Abschluss.

  • In NDS gibt es nach längerer Zeit des GeSa-Verbots (nur Bestandsschutz, keine Neugründung) durch neue IGS und auch durch Oberschulen (ähnlich KGS) und Abi-Möglichkeiten an diesen Schulen oder an der BBS eine Menge Möglichkeiten.


    Der Run auf das Gym ist da eher eine gewählte Segregation,

    vor Ort ist es aber eher mal die SekI-Schule, gerade weil das Gym Standesdünkel und Erwartungen hegt,

    immer auch Schulkonzept (offen/enger, Berichte/ Noten), mal der Schulweg, die Möglichkeit, den Nachmittag freier zu gestalten.

    Ich denke, dass es auch für Kinder, die weniger Unterstützung und Hilfe zu Hause bekommen, auf diese Weise möglich ist, das Abitur zu erreichen, auch wenn sie kein Instrument spielen und Mama nicht das Referat zu Hause vorbereitet.


    Am Ende schaffen viele ihr Abi, was einen aber nicht zum Studieren zwingt. Auch in der Aufnahme eines Studiums gibt es durchaus Unterschiede zwischen den Kindern dieser und jener Eltern.


    Weitaus schwieriger finde ich, dass es in GS und SekI zu wenig Unterstützung gibt, überhaupt Grundlegendes zu erlernen. Die stetigen 20%, die wir verlieren, verlieren wir schon sehr früh, in der GS muss man dabei zusehen und hat zu wenige Mittel, dagegen etwas zu unternehmen, trotz allen Engagements und trotz der Bitten der Eltern um Hilfe.

    Kinder, die wirklich nicht lernen können, gibt es sehr wenige, Kinder, die nicht wollen, sind sehr selten.

  • Ja, das ist es hier schon lange. Studium an der Fachhochschule. Genau wie Physio, Pflege, etc Im Grunde sind alle Gesundheitsberufe mindestens halbakademisch, daher auch die eklatant bessere Bezahlung. Vom Niveau her ist FMS aber ein deutlicher Unterschied zum Gym, ich unterrichte ja beides.

  • Am Ende schaffen viele ihr Abi, was einen aber nicht zum Studieren zwingt

    Es zwingt doch hier keiner wen zu irgendwas. Ich finde es bemerkenswert, dass das einfach so selbstverständlich passiert. Das Gymnasium bereitet auf ein Studium vor, daran besteht gar kein Zweifel. Ist in den Köpfen von Jugendlichen und Lehrpersonen quasi stiller Konsens. Die Mädchen aus meinem diesjährigen Abschlusskurs sind zum grössten Teil schon eingeschrieben, die Männer müssen ja zum Militär. Die werden aber auch alle studieren.

  • mjisw

    Was meinst du mit…


    Ich meinte, dass wenn jemand an einem Gymnasium ist, es schon m.E. eine gewisse - zumindest latente - Erwartungshaltung (vom Umfeld und auch sich selbst gegenüber) gibt, dass diese Person später mal ein Studium aufnimmt. Das mag seine Wurzeln in der Vergangenheit haben, als die unterschiedlichen Schulformen auch offiziell noch das Ziel hatten, Personen für einen bestimmten Berufsweg auszubilden (Also Volksschule --> Arbeiter, Realschule --> Angestellte, Gymnasium --> Akademiker). Sicher wird das heute nicht mehr so eng gesehen (und das ist natürlich gut so), aber ich habe z.B schon einige Male gehört: Wozu mache ich denn sonst (außer zu Studieren) Abi?

  • Antimon

    Was du schreibst, ist doch das beste Beispiel dafür, dass in der Schweiz das Abitur noch ein anderes Anforderungslevel hat und die Wertschätzung anderer Abschlüsse noch funktioniert. Finde ich durchaus erstrebenswert. In Deutschland hält man die Erhöhung der Abiturientenquote für den wichtigsten Faktor in Sachen Bildungsgerechtigkeit und dafür ist eben in vielen Gegenden das Niveau im freien Fall.



    Ich sehe einfach nicht, dass das Schulsystem zu wenig leistet, um soziale Unterschiede abzufangen. Förderkurse gab es an meinem alten Gymnasium in allen Hauptfächern. Die Empfehlung zur Teilnahme den das vorherige Schuljahr nochmal festigenden Crashkursen gab es zeitgleich mit den Zeugnissen, inklusive Anmeldezettel. Auch die Empfehlung zur Teilnahme an der Hausaufgabenbetreuung wurde regelmäßig ausgesprochen, wenn man sehen konnte, dass es in diesem Feld offensichtlich Probleme gibt. Leider wurde vieles davon nicht angenommen und weder Eltern noch Schüler haben die Notwendigkeit zur Teilnahme gesehen. Und überhaupt sind nachmittags liegende Zusatzkurse ja unbequem und zu viel des Guten. Man kann nur denjenigen helfen, die sich auch helfen lassen möchten. Oder man muss den Rechtsrahmen ändern und solche Dinge als verbindlich ins Stundenraster einpreisen (würde ich eh gut finden - ja nach Bedrf Förder- oder Forderkurse oder sowas, um auch mal den Leistungsstarken irgendwo gerecht zu werden).

  • Eine andere Sache, Antimon : Ist deine Forderung nach mehr Bildungsgerechtigkeit nicht auch irgendwo in sich unlogisch bzw. kollidiert sie nicht mit einem anderen Vorwurf von dir an das deutsche Schulsystem? Mehr Bildungsgerechtigkeit > mehr Schüler am Gymnasium > mehr Abiturienten > noch stärkere Abwertung des Abschlusses ?

    "gerecht" bedeutet ja nicht, dass jeder Hochschulreife anstreben muss. Es könnte bedeuten, dass das brave Kind A aus gutem Hause, mit dem die Mama Schönschreiben übt und 3 Wochen lang auf Sachkundetests lernt, trotzdem den Realschulabschluss anstrebt und der laute, hibbelige B mit Migrationshintergrund die Gymnasialempfehlung bekommt, wenn er denn das kognitive Potential hat, A aber nicht.


    Und, was auch schon geschrieben wurde, wenn die Entscheidung erst nach Klasse 7 oder 8 fiele und die SuS selbst ihren Weg besser in die Hand nehmen können.

  • Die Mädchen aus meinem diesjährigen Abschlusskurs sind zum grössten Teil schon eingeschrieben, die Männer müssen ja zum Militär. Die werden aber auch alle studieren.

    Nur eine Zwischenfrage am Rande. Sind bei euch die weiblichen Schüler*innen im Abschlussjahrgang jünger als die männlichen? 🤔

    Wer Fehler findet darf sie behalten und sich freuen! :victory:

  • Heutzutage sehe ich Schüler, die nach mehreren Jahren Studium (Physik, Informatik u.ä. ) abbrechen und dann doch eine Lehre machen (Fachinformatiker). Da hätte ich zur umgekehrten Reihenfolge geraten.

    Ich fürchte, es hilft nur mantraartig, auf die Ausbildung als mögliche Qualifizierung zur Berufsausübung hinzuweisen und deren Vorteile gegenüber dem Studium aufzuzeigen. Hannelotti hat ja bereits darauf hingewiesen, dass es derzeit eine der zentralen Aufgaben in ihrem Tagesgeschäft ist und ich sehe leider auch den Bedarf hier, weil einfach extrem viele Fehlvorstellungen bei Schülern vorhanden. Ich weiß nicht einmal, wo diese herkommen, aber es besteht bei ganz vielen Jugendlichen ein undifferenzierter und unreflektierter Wunsch nach Studium, obwohl Antimon völlig korrekt, aufzeigte, dass eine gefragte Fachkraft durchaus mehr verdienen und bessere Jobchancen als ein ungefragter Akademiker haben kann.

    Hätten die Schüler aus deinem Beispiel gleich die Fachinformatikerausbildung gemacht, wer weiß, ob sie sich nicht nur Zeit, sondern auch viele Rückschläge und Misserfolge erspart hätten. Außerdem wäre bei besonders guten Leistungen (auch hier wieder nicht die Generallösung für alle, sondern die fachlich besonders Versierten!) die Weiterbildung zum Meister für Informationstechnik möglich - und damit kann man bereits ordentlich Karriere machen, wenn denn gewünscht.

  • Nur eine Zwischenfrage am Rande. Sind bei euch die weiblichen Schüler*innen im Abschlussjahrgang jünger als die männlichen? 🤔

    Ich verstehe die Frage nicht. Nee, die sind gleich alt, wir haben für die Männer einfach noch den verpflichtenden Wehrdienst. Die Einschreibefrist beginnt irgendwann im März, dann melden die Mädchen sich provisorisch an. Das Zeugnis reichen sie dann nach.

  • In Deutschland hält man die Erhöhung der Abiturientenquote für den wichtigsten Faktor in Sachen Bildungsgerechtigkeit und dafür ist eben in vielen Gegenden das Niveau im freien Fall

    Diesbezüglich sind wir uns ja einig. Ein funktionierendes Gesamtschulsystem diefferenziert eben sehr wohl nach Leistung. Alle ans Gymnasium und alle in die gleichen Klassen ist genau das Gegenteil davon. Wir haben zwar kein integriertes System aber eben meistens zwei Niveaus im gleichen Schulhaus. Als Lehrperson Sek II bin ich fachdidaktisch auch für beides ausgebildet. In der Sek I wechseln jetzt immer mehr Kantone auf ein integriert-differenziertes System. Das macht die Durchlässigkeit vor allem organisatorisch einfacher.

  • Es verwundert mich jedes Mal wieder, wenn Gymnasialkolleg:innen von angebotenem Förderunterricht schreiben.

    Das kenne ich tatsächlich auch so. Schon lange vor Corona gab es Förderkurse (ich habe vergessen, wie die hießen, Brückenkurse oder so), seit G8 Intensivierungsstunden (wo man sehr viel besser differenzieren kann, da man i.d.R. nur die halbe Klasse hat) und aktuell noch die Corona-Aufholkurse sowie Förderung derjenigen SuS, die im neuen G9 besonders schnell sind schon nach 8 J. Abitur machen wollen.

    Die Übergänge sind - in Bayern - vielfältig und flexibel.

    Ich habe den Eindruck, dass das in vielen Köpfen noch nicht angekommen ist. Leider - dabei wäre es für so manche SuS der bessere Weg, aber bei uns bleiben die Eltern oft noch sehr stur und beratungsresistent.

  • Ich denke, mantraartig auf die Vorteile einer Ausbildung als mögliche Qualifizierung zur Berufsausübung hinzuweisen, bringt gar nichts, weil


    1. Der Lehrer selbst verbeamtet oder im öffentlichen Dienst ist und somit berechtigterweise nicht als Experte dafür wahrgenommen wird, welche Bildungswege sich in der freien Wirtschaft auszahlen

    2. Der Lehrer berechtigterweise nicht als neutral wahrgenommen wird, weil es für das Funktionieren der Schule natürlich lästig ist, wenn ein nennenswerter Anteil der Schüler sich durchmogelt und den Anforderungen nicht wirklich gewachsen ist.

    3. Es in Wirklichkeit keineswegs klar ist, dass es für einen mittelmäßigen Schüler vorteilhaft ist, eine Ausbildung zu machen. Es kann durchaus sein, dass es für ihn besser ist, sich durch das Abitur durchzumogeln und durchzuquälen:


    Viele schlechte Abiturienten schaffen ein BWL-Studium und die Verdienstmöglichkeiten mit einem BWL-Studium sind im Mittel deutlich besser, als mit einer Ausbildung. Viele Geschäftsleute (besonders BWLer) haben wenig Achtung vor akademischen Leistungen und betrachten Schulabschlüsse und Studienabschlüsse als "Eintrittskarten", die man erwirbt, um das eigentlich Relevante Tun und Lernen zu dürfen.


    Natürlich gibt es sehr wohlhabende Handwerker und wenn man Handwerker werden möchte, ist das unter Umständen eine gute Wahl. Aber es ist eine körperlich schwere Arbeit, die man dann auch machen muss. Viele können es auch mit 50 nicht mehr. Lebensverdienst und auch Jobsicherheit sind mit Abitur und erst recht als Akademiker höher. Frauen, die mit einer Ausbildung wirklich gut verdienen, sind mir persönlich unbekannt. Der vielzitierte Beruf der Krankenschwester ist so hart, dass wir immer zu wenig haben, obwohl wir viel mehr als die benötigten Kräfte ausbilden. Ein großer Teil der Ausgebildeten hält den Beruf nicht länger als 2 1/2 Jahre durch. Gutverdienende Akademikerinnen gibt es hingegen viele.


    Somit ist es zu erwarten, dass Eltern und Schüler immer versuchen, einen Abschluss höher herauszuholen als eigentlich drin ist.


    Es hat auch keinen Sinn willkürliche Eingangstests vor dem Gymnasialübertritt zu machen, wenn die Schüler nachdem sie sich mit Elternentscheidung hineinmanövriert haben, das Gymnasium schaffen. Und da liegt m.E. das wirkliche Problem:


    In meiner Schulzeit fielen von nur 25 Schülern (die alle mit 10 Jahren für den Gymnasialübertritt eine Zentralprüfung geschrieben hatten) in der 5. Klasse Gymnasium 4 Schüler durch. Wir erhielten wohl ein bisschen Auffüllung von oben, aber in der 6. Klasse fielen nochmals 4 Schüler durch. Später war die Durchlaufquote geringer, aber Schüler, die den Anforderungen des Gymnasiums nicht gewachsen waren, fielen durch und gingen dann auch ab.


    Bei meinen Töchtern waren die vergebenen Noten mindestens um 1,5 Noten besser als sie bei uns üblich waren und es fiel während der gesamten Schulzeit höchstens einer durch (bei meiner Großen ging einer ab aufs Montessori, bei den Kleinen hat einer freiwillig wiederholt).


    So, und wenn es alle schaffen braucht man sich nicht wundern, dass man die Jahre drauf jedes Mal schlechtere Schüler hat. Warum auch nicht, hat doch geklappt.

  • Ich fürchte, es hilft nur mantraartig, auf die Ausbildung als mögliche Qualifizierung zur Berufsausübung hinzuweisen und deren Vorteile gegenüber dem Studium aufzuzeigen. Hannelotti hat ja bereits darauf hingewiesen, dass es derzeit eine der zentralen Aufgaben in ihrem Tagesgeschäft ist und ich sehe leider auch den Bedarf hier, weil einfach extrem viele Fehlvorstellungen bei Schülern vorhanden. Ich weiß nicht einmal, wo diese herkommen, aber es besteht bei ganz vielen Jugendlichen ein undifferenzierter und unreflektierter Wunsch nach Studium, obwohl Antimon völlig korrekt, aufzeigte, dass eine gefragte Fachkraft durchaus mehr verdienen und bessere Jobchancen als ein ungefragter Akademiker haben kann.

    Hätten die Schüler aus deinem Beispiel gleich die Fachinformatikerausbildung gemacht, wer weiß, ob sie sich nicht nur Zeit, sondern auch viele Rückschläge und Misserfolge erspart hätten. Außerdem wäre bei besonders guten Leistungen (auch hier wieder nicht die Generallösung für alle, sondern die fachlich besonders Versierten!) die Weiterbildung zum Meister für Informationstechnik möglich - und damit kann man bereits ordentlich Karriere machen, wenn denn gewünscht.

    Ja, das sehe ich auch so und rate Abiturienten auch gerne zu einem dualen Studium oder auch einer Ausbildung. Wie geschrieben, habe ich selbst auch gemacht und auch zwei meiner Kinder.

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