Jogginghose oder Schule?

  • Ein Kind: Eltern Analphabeten, Vater geht einer Arbeit nach,

    Mutter wirkt mit jedem der 3 Kinder überfordert,

    ein Kind im Ganztag oder Tagesaufenthalt,

    JA ist informiert, erwartet aber, dass sich die Mutter selbst um Hilfe bemüht und bittet

    … und bei diesem Kind sind auch bei uns Schuhe aufgetaucht und hin und wieder helfen wir mit Kleidung aus, weil diese nicht witterungsgemäß ist.


    Anderes Kind: Mutter alleinerziehend, schwierige familiäre Verhältnisse schon bei ihr selbst, ggf. Missbrauch als Kind erlebt, kann sich selbst kaum um die Kinder kümmern, vergisst regelmäßig, das Kind abzuholen, Mutter nur schwer erreichbar und wenig zugänglich,


    Anderes Kind: Familie mit 3 Kindern in größerem zeitlichen Abstand, Eltern in on-off-Beziehung, Frauenhaus, Behauptungen, Klagen, Rückkehr, und alles beginnt von vorn, Kinder verwahrlost und auf sich allein gestellt, Kind am Nachmittag über das JA in einer erzieherischen Kindergruppe


    … und dagegen stehen Fundkisten mit Kleidung, die halbjährlich randvoll sind mit liegengebliebener Kleidung.

  • hin und wieder helfen wir mit Kleidung aus, weil

    ... die Kinder reinpinkeln und natürlich nie was dabei haben.

    Zurück bekommen wir diese Kleidung auch nie.

    Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.

    Aldous Huxley

  • Kannst du mal, natürlich in anonymisierter Form, darstellen, in welchen Verhältnissen das Mädchen aufwächst, dass es keine Unterwäsche hat? Mir geht es da gar nicht um ein Urteil, sondern um ein Verständnis für eine Lebenswelt, die von meiner und, insofern ich das beurteilen kann, von der meiner Schüler doch ein Stück entfernt ist.

    Bei uns liegt es nicht am Geld. Der Schüler hat ne Macke.

  • Kannst du mal, natürlich in anonymisierter Form, darstellen, in welchen Verhältnissen das Mädchen aufwächst, dass es keine Unterwäsche hat? Mir geht es da gar nicht um ein Urteil, sondern um ein Verständnis für eine Lebenswelt, die von meiner und, insofern ich das beurteilen kann, von der meiner Schüler doch ein Stück entfernt ist.


    - Waschmaschine kaputt: neue kostet 400 Eur, die hat aber niemand, also wird nicht mehr gewaschen. Wenn man von Hartz IV lebt, reicht das Geld etwa 3 Wochen, man kann nichts zurücklegen für Waschmaschinen

    - Unterhosen wurden von großen Geschwistern weiterverebt und sind irgendwann durchlöchert und werden weggeworfen, also hat man so lange keine, bis jemand in die Stadt läuft und neue kauft. Aber der Tabak ist alle.

    - Kind zieht sich morgens alleine an, weil die Mutter noch schläft oder betrunken ist und hat nie ein Gespräch mit seiner Mutter über dir Vor- und Nachteile von Unterwäsche geführt, sieht also selbständig keine nennenswerten Vorteile und schlüpft so in seine Jogginghose (falls es in dieser nicht schon geschlafen hat)


    Was sollen eigentlich diese Fragen zur Zeit, du bist doch -zumindest hier im Forum- seit Jahren immer wieder mit den Familienverhältnissen vernachlässigter Kinder konfrontiert worden. Selbst wenn dir das Wissen aus eigener Anschauung fehlen sollte und du nie ein Buch gelesen oder Film gesehen hast, in dem arme Menschen vorkommen, kann man sich das doch mit gewisser Phantasie denken?

  • Ich habe zweimal (!) in jüngerer Vergangenheit nach konkreten Beispielen für etwas gefragt, was Extremfälle darstellt, mit denen ich noch keine Berührungspunkte hatte. Mir war nicht bewusst, dass dich das stört, aber an der Stelle danke für die Beispiele.

  • Wir haben einen Schüler OHNE Unterhose. Stört ihn. Die Sportlehrerin hat sich bei den Eltern beschwert und wurde daraufhin blöd angemacht.

    Dafür hatte ich Schüler, die beim Schwimmen immer zwei Badehosen übereinander angezogen haben. Damit sich ja nichts abzeichnet ;)

    «Wissen – das einzige Gut, das sich vermehrt, wenn man es teilt.» (Marie von Ebner-Eschenbach)
    Meine Beiträge können Spuren von Ironie und Sarkasmus enthalten

  • Ich finde, es hat was Voyeuristisches, ja.

    Ich finde es zwar befremdlich, dass eine erfahrene Lehrkraft sich unabhängig von den eigenen Lebensumständen so gar nicht vorzustellen vermag, warum es in manchen Elternhäusern weniger behütet und gesichert zugeht, Voyeurismus vermag ich in den Nachfragen jedoch nicht zu erkennen. Etwas mehr Kontakt zu verschiedenen Lebenswelten scheint aber angezeigt zu sein, wenn der eigene Elfenbeinturm derart undurchdringlichund hoch ist.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Wen meinst du? ;)

    Den User, auf dessen Beitrag sich Quittengelees Beitrag bezogen hatte (Gymshark). :)

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • - Waschmaschine kaputt: neue kostet 400 Eur, die hat aber niemand, also wird nicht mehr gewaschen. Wenn man von Hartz IV lebt, reicht das Geld etwa 3 Wochen, man kann nichts zurücklegen für Waschmaschinen

    - Unterhosen wurden von großen Geschwistern weiterverebt und sind irgendwann durchlöchert und werden weggeworfen, also hat man so lange keine, bis jemand in die Stadt läuft und neue kauft. Aber der Tabak ist alle.

    - Kind zieht sich morgens alleine an, weil die Mutter noch schläft oder betrunken ist und hat nie ein Gespräch mit seiner Mutter über dir Vor- und Nachteile von Unterwäsche geführt, sieht also selbständig keine nennenswerten Vorteile und schlüpft so in seine Jogginghose (falls es in dieser nicht schon geschlafen hat)

    Wir hatten auch mal 4 Geschwister, die so ähnlich aufwuchsen. Jugendamt hat es nicht groß interessiert. Es hat sich erst etwas getan, als die Kinder alt genug waren, um zu sagen, bei welchem Elternteil sie leben wollen. Als die erste Tochter zum Vater gezogen war und die zweite sich auch dazu aufmachte,.änderte sich bei der Mutter plötzlich etwas. Anekdotische Evidenz, ich weiß.

  • Diese expliziten Vorfälle kenne ich zwar nicht, aber bei anderen Familien mit schwierigen Verhältnissen heißt es leider oft, dass das Jugendamt aus personellen Gründen erst spät oder in deutlich geringerem Ausmaß als man es sich als Außenstehender oft wünscht reagiert. Inzwischen bin ich mir gar nicht sicher, ob bei einer optimalen Personalaussattung diese Probleme direkt gelöst werden würden. Vielleicht ist die Arbeitsweise der Sozialarbeiter auch einfach zu bürokratisch oder zu vorsichtig...

  • Diese expliziten Vorfälle kenne ich zwar nicht, aber bei anderen Familien mit schwierigen Verhältnissen heißt es leider oft, dass das Jugendamt aus personellen Gründen erst spät oder in deutlich geringerem Ausmaß als man es sich als Außenstehender oft wünscht reagiert. Inzwischen bin ich mir gar nicht sicher, ob bei einer optimalen Personalaussattung diese Probleme direkt gelöst werden würden. Vielleicht ist die Arbeitsweise der Sozialarbeiter auch einfach zu bürokratisch oder zu vorsichtig...

    Hast du dich schon einmal mit Sozialarbeitern über deren Job unterhalten, herausgefunden, was diese denken, woran es hakt und wie sie gerne arbeiten wollen würden, um ihre Klientel besser erreichen, unterstützen oder eben auch beschützen zu können? Das elterliche Recht ist ein ÄUßERST weitreichendes Recht in Deutschland. Dieses einzuschränken oder gar zu entziehen ist selbst in scheinbar eindeutigen Fällen alles andere als leicht, weil die Rechtslage das manchmal nicht hergibt oder es viel mehr und kleinschrittigerer Begleitung von Familien bedürfte, damit diese die Kurve doch noch kriegen, wofür aber das Personal fehlt, weil manchmal auch leider Gerichte deutliche Hinweise der Jugendämter ignorieren oder anders interpretieren und deshalb komplett anders entscheiden, weil... (tbc)

    Vieles wäre möglich, bei entsprechender personeller Ausstattung- das gilt letztlich in allen sozialen Berufen. Wo Personal fehlt, zahlen dann zuerst die Schwächsten in der Gesellschaft den Preis, oftmals sind das eben Kinder.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Personelle Ausstattung ist sicher ein wichtiger Faktor. Ich denke, wir sind uns zumindest einig, dass die Situation durchaus komplex ist und es daher nicht reicht, mantraartig zu erwähnen, dass es mehr Personal in sozialen Berufen bedürfe, sobald ein Fall von Kindesvernachlässigung die Runde in den Medien macht, in der Hoffnung, dass dies alleine solche Fälle verhindern würde. Und damit sage ich nicht, dass der Faktor nicht wichtig sei, es ist nur nicht das Allheilmittel, als dass es in Unterhaltungen gerne rhetorisch verwendet wird.

  • Personelle Ausstattung ist sicher ein wichtiger Faktor. Ich denke, wir sind uns zumindest einig, dass die Situation durchaus komplex ist und es daher nicht reicht, mantraartig zu erwähnen, dass es mehr Personal in sozialen Berufen bedürfe, sobald ein Fall von Kindesvernachlässigung die Runde in den Medien macht, in der Hoffnung, dass dies alleine solche Fälle verhindern würde. Und damit sage ich nicht, dass der Faktor nicht wichtig sei, es ist nur nicht das Allheilmittel, als dass es in Unterhaltungen gerne rhetorisch verwendet wird.

    Derartige Unterhaltungen (mit eindimensionalen Lösungsansätzen) sind mir zu diesem Thema aus meinem persönlichen Umfeld nicht geläufig. Dazu ist den Menschen in meinem persönlichen Umfeld zu bewusst, dass einfache Pauschalantworten zwar als Wahlkampfslogans taugen, nicht aber komplexe Probleme ausreichend erfassen und durchdringen, so dass echte Lösungen über reine Zufallstreffer hinaus entwickelt und stabil getragen werden können.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Jugendamt hat es nicht groß interessiert

    Ja was soll das Jugendamt auch machen? Sinnvoll wäre, der Familie eine funktionierende Waschmaschine dahinzustellen. Das Job Center wird die 400 Euro nicht rausrücken. Das Kinder in Armut leben, scheint politisch gewollt.

    An alle Deutschlehrer:
    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten. :doc:

  • Hilfe zur Selbsthilfe geben: Gutschein für eine Waschmaschine aus dem Second-hand Laden ausgeben. Da kaufe auch ich immer wieder Möbel oder Elektroteile. Hinfahren, aussuchen und heimbringen müssen sie es selbst (oder gleich mit angeben, dass sie kein Auto haben und einen weiteren Gutschein einfordern).

    Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.

    Aldous Huxley

  • Ja was soll das Jugendamt auch machen? Sinnvoll wäre, der Familie eine funktionierende Waschmaschine dahinzustellen. Das Job Center wird die 400 Euro nicht rausrücken. Das Kinder in Armut leben, scheint politisch gewollt.

    Bei mir ging es nicht um die Waschmaschine. Es waren 4 Geschwister, die in der Schule den Mitschülern und Lehrern vor Hunger das Essen aus den Taschen klauten.

    Jugendamt meinte nur, es sei alles in Ordnung. Zu Hause bei den Kindern sei Brot und Müsli vorhanden. Ab und an gäbe es sogar Kroketten.


    Dass den Kindern vor Hunger und Durst oft schlecht war, interessierte die Tante vom Jugendamt nicht. Zum Glück ging das älteste Mädchen zum Vater. Als die anderen auch zu ihren Vätern wollten, wachte die Mutter etwas auf.

    Nichtsdestotrotz bekamen die Kinder von uns Essen mitgebracht, da wir weiteren Diebstahl verhindern wollten.

  • … die in der Schule den Mitschülern und Lehrern vor Hunger das Essen aus den Taschen klauten.

    Das kommt auch bei Pflegekindern vor, wenn sie zuvor in der Herkunftsfamilie Hunger gelitten haben. Das ist so sehr verankert, dass der Umgang mit Essen neu erlernt werden muss, aber auch dazu führen kann, dass sie immer auf der Suche nach Essbarem bleiben, selbst wenn es bei der Pflegefamilie ausreichend gibt.

    Das ist so traurig und entsetzlich.

  • Ja, und gerade unsre Schüler erleben Essen als Belohnung, Bestätigung, Wohlfühlen, Wahrnehmen, Anerkennen... Unsre Schüler sind so derart gierig auf Essen, da spielt so viel vom oben Genannten mit rein, ich kann das alles nur bestätigen.

    Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.

    Aldous Huxley

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